Rede von Jean Monnet

Rede von Jean Monnet

Ich bin stolz und sehr glücklich, aus Ihren Händen den Karlspreis für den Frieden entgegenzunehmen, und ich danke Ihnen von ganzem Herzen für die Widmungen, mit der Sie die Medaille und die Verleihungsurkunde versehen haben, die mir soeben durch den Herrn Bürgermeister Ihrer Stadt überreicht wurden - in diesem Saal, der Zeuge der ruhmreichen Vergangenheit Aachens ist.

Es ist ein ermutigendes Zeichen unserer Zeit, daß der deutsche Friedenspreis einem Manne verliehen wird, der auf dem Boden Frankreichs geboren wurde, einem Franzosen und Präsidenten der Hohen Behörde.

Darin liegt der Ausdruck einer großen Hoffnung, die im Begriffe ist, Wirklichkeit zu werden: das endgültige Verschwinden des jahrhundertelangen, zerstörerischen deutsch-französischen Gegensatzes durch die endlich glückende Vereinigung der Völker Europas in ein und derselben Gemeinschaft, deren erste lebendige Verwirklichung die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl darstellt. Sie ist das gemeinsame Werk unserer sechs Länder. Ich möchte hier nachdrücklich auf den wesentlichen Beitrag hinweisen, den Kanzler Adenauer und Staatssekretär Hallstein dazu geleistet haben.
Während der letzten drei Monate haben wir den europäischen Markt für Kohle und Stahl errichtet, der sich von nun ab, nachdem alle Schranken gefallen sind, auf das vereinigte Gebiet Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, und die Niederlande erstreckt.

In diesem Raum sind Aufkommen von Kohle und Stahl und deren Absatzmärkte nicht mehr durch Grenzen eingeschränkt - sie stehen jetzt den Verbrauchern und den Unternehmen unserer sechs Länder ohne Unterschied der Nationalität offen.

Wir haben auf diese Weise den Anfang damit gemacht, den europäischen Markt von 155 Millionen Verbrauchern zu schaffen, der ebenso groß ist wie der Inlandsmarkt der Vereinigten Staaten. Dieser umfassende vereinigte europäische Markt ist die unabdingbare Voraussetzung für eine wachsende Wirtschaft und demzufolge auch für die stetige Hebung des Lebensstandards, die eines der Hauptziele unserer Gemeinschaft darstellt.

Die veraltete Abschließung der Länder Europas untereinander hat bisher nur künstliche Produktionsbeschränkungen mit sich gebracht und infolgedessen zu einer Stagnierung unseres Lebensstandards geführt. Sogar die Sowjetunion hat trotz ihrer technischen Rückständigkeit gegenüber Westeuropa ihre Produktion rascher entwickeln können als wir, weil sie über einen großen, den Anforderungen der modernen Massenproduktion entsprechenden Markt verfügte.

Dieser europäische Markt für Kohle und Stahl, auf dem die Aufkommen jetzt gemeinsam sind, ist der wirkliche Anfang Europas. Er wird bereits jetzt von europäischen demokratischen Organen regiert, auf die unsere sechs Parlamente einen Teil ihrer Souveränität übertragen haben:

Die Hohe Behörde ist für diesen Markt die Regierung. Ihre Entscheidungen werden auf Grund der Befugnisse, welche die Parlamente ihr übertragen haben, unmittelbar in den sechs Ländern angewandt und durchgeführt.
Wir erlassen unsere Entscheidungen in Anwendung von Bestimmungen, die für alle gleich sind, und zwar nach Anhörung der Unternehmen, der Gewerkschaften, der Verwaltungen und der Regierungen, deren Minister in bestimmten Zeitabständen im Ministerrat zusammentreten, um ihre Stellungnahmen zu den von uns geplanten Maßnahmen abzugeben.
Die Europäische Versammlung, in der belgische, deutsche, französische, italienische, luxemburgische und niederländische Vertreter sitzen, übt die parlamentarische Kontrolle aus.

Der Europäische Gerichtshof befindet über Klagen, die gegen unsere Entscheidungen erhoben werden. Seine Urteile sind in unseren sechs Ländern vollstreckbar.

Eine neunmonatige Erfahrung in der Arbeit dieser Organe berechtigt mich, Ihnen zu erklären, daß wir auf dem Wege zum Erfolg sind. Gerade die Schwierigkeiten, auf die wir stoßen und deren Überwindung durch unsere Organe ermöglicht wird, sind dafür der beste Beweis.

Auf unserer Europäischen Gemeinschaft sind andere kraftvolle Bestrebungen erwachsen, um die folgenden Phasen der weiteren Entwicklung vorzubereiten:
Die Verteidigungsgemeinschaft hat die Organisation der gemeinsamen Verteidigung im Rahmen der Entwicklung der europäischen Einheit zum Ziel.
Die Regierungen und unsere Europäische Versammlung haben die Schaffung einer europäischen politischen Organisation in Angriff genommen.

Unser Weg liegt klar vor uns. Um die erzielten Fortschritte auch in Zukunft zu sichern, muß ein europäisches Parlament und eine überstaatliche politische Behörde geschaffen werden. Für die Völker ist jetzt der Augenblick gekommen, die Führung des begonnenen Unternehmens dadurch zu übernehmen, daß sie selbst in allgemeiner Abstimmung ihre Vertreter für die Leitung der europäischen Angelegenheiten wählen.

Dieses umwälzende Unternehmen stellt gleichzeitig eine durchaus natürliche Entwicklung dar. Auf europäischer Ebene setzen wir die Anstrengungen fort, welche die Menschen im Laufe der Jahrhunderte veranlaßt haben, sich unter gemeinsamen Organen und Vorschriften zu vereinigen.

Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Ergebnis der früheren Anstrengungen, die zur Errichtung der Nationalstaaten geführt haben, und der Gemeinschaft der Völker Europas, die das Ergebnis unserer Tätigkeit sein muß.
Die Nationalstaaten haben versucht, ihre Vorherrschaft um den Preis blutiger Kämpfe zu errichten, was die Völker an den Rand des Verderbens geführt hat.
Die Gemeinschaft, deren Aufbau wir begonnen haben, beseitigt in den Beziehungen zwischen den Völkern die Beherrschung des einen durch den anderen. Sie eint die Völker Europas und ihre produktiven Kräfte durch die Schaffung von gemeinsamen Organen und Vorschriften, welche die einzelstaatlichen Souveränitäten verschmelzen.

Weil unsere Gemeinschaft nicht das Werkzeug eines Willens zur Macht, sondern unsere einzige Zuflucht für die Verbesserung des Menschenloses ist, steht sie der Teilnahme aller derer offen, die sich ihr anschließen wollen und können, wenn sie ihre Regeln beachten. Wir sind davon überzeugt, daß unsere Tätigkeit in ihren Ergebnissen erweisen wird, daß andere ihren Vorteil darin finden, sich ihr anzuschließen.

Die Welt hat sich sehr verändert, ihre Zukunft hängt jedoch noch immer weitgehend von den Ereignissen in Europa ab.
Unter den früheren Verhältnissen gab es keinen Frieden, weder für Europa, noch für die Welt. Die europäischen Konflikte haben die Vereinigten Staaten gezwungen, zweimal ihre Streitkräfte in die Schlacht auf dem Kontinent zu werfen; gleichzeitig haben diese Konflikte sowohl uns als auch die Sowjetunion an den Rand der Vernichtung gebracht.

Um die gefährdeten friedlichen Beziehungen, die heute in der Welt bestehen, zu retten und sie einem dauerhaften Frieden entgegenzuführen, muß die europäische Lage durch die Einigung der Europäer umgestaltet werden. Auf diese Weise werden wir die Bedrohung zum Verschwinden bringen, mit der Europa durch seine Uneinigkeit und seine Schwäche sich selbst und die anderen belastet.

Wenn wir so uneinig bleiben, wie wir es heute sind, werden die Europäer weiterhin dem nationalen Ehrgeiz ausgesetzt und dazu getrieben werden, nach altem Rezept auswärtige Garantien zu suchen, um sich gegeneinander zu sichern - jeder wird, wie in der Vergangenheit, den Fortschritt der anderen fürchten. Die zu engen nationalen Märkte werden die wirtschaftliche Rivalität der einzelnen Staaten und die Unterlegenheit der europäischen Produktionsbedingungen zu einem Dauerzustand machen. Die Ungewißheit über das Schicksal Europas wird in der Welt das Mißtrauen nähren und die gegenseitigen Vorsichtsmaßregeln zur Gewohnheit werden lassen. Ein uneiniges Europa gliche jenen Gebieten, deren Schicksal es ist, aufs Spiel gesetzt zu werden, wenn Kriege um sie entbrennen.

Augenblicklich sind die Völker noch von nationalen Gegensätzen, Mißverständnissen, Unverständnis und Argwohn beherrscht. Ein Geheimnis umgibt die Arbeiten des ungeheuren Rußlands und die Gewalt der neuen Waffen.

Heute hängt der Friede nicht nur von Verträgen und eingegangenen Verpflichtungen ab. Er beruht im wesentlichen auf der Schaffung von Voraussetzungen, die, wenn sie auch nicht die Natur der Menschen verändern, dennoch das Verhalten der Menschen zueinander in einem friedlichen Sinne ausrichten. Dies wird eine der wesentlichen Folgen der Umwandlung Europas sein, die sich unsere Gemeinschaft zum Ziel gesetzt hat.

Dadurch, daß die Europäer ihre Einheit verwirklichen, Europa seine alte Kraft wiedergeben, neue und dauerhafte Lebensbedingungen schaffen, tragen sie zum Frieden bei. Auf diese Weise verhindern sie, daß sie in den tödlichen Mahlstrom geraten, in den sie, wenn sie uneinig blieben, welche Verträge auch immer geschlossen würden, durch ihr Handeln gegeneinander und durch ihre Schwäche zusammen mit den anderen Völkern hineingerissen würden.
Durch die Schaffung Europas errichten die Europäer das wahre Fundament für den Frieden.