Rede von Jean-Claude Juncker

Rede von Jean-Claude Juncker

Königliche Hoheiten,
Sehr verehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Jürgen,
Herr Bundestagspräsident,
Herr Bundeskanzler, lieber Helmut Kohl,
Herr Bundeskanzler, lieber Gerhard Schröder […],
Meine sehr verehrten Damen und Herren Präsidenten,
Ministerpräsidenten,
Premierminister,
Minister,
Abgeordnete des Europäischen Parlaments,
Herr Präsident desselben,
meine sehr verehrten Damen und Herren Karlspreisträger,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren […].

Herr Oberbürgermeister, über Ihre Stadt Aachen ließe sich vieles sagen, und über diese Stadt müsste man auch vieles sagen - über die ehrenswerte alte Kaiserstadt, ihr politisches und geistiges Regnum im abendländischen Europa, über den Dom dieser Stadt, in dem so viel Ruhe ist, dass der Dom größer wirkt als er eigentlich ist, über diesen Krönungssaal, über das Schicksal auch einer oft leidgeprüften Grenzstadt in Europa.

Aber so viel Zeit habe ich nicht um nur über Aachen zu reden.

Die längste Lobrede auf Aachen würde ohnehin nicht ausreichen um das auszudrücken was wir Luxemburger für die Stadt Aachen empfinden. Wir sind gerne hier, besonders unsere Studenten. Wir fühlen uns in dieser Stadt nicht nur gut aufgenommen, sondern regelrecht angenommen - was ja auch erklärt wieso ich als einziger bisher der Karlspreisträger diesen Preis zweimal erhalte, weil das luxemburgische Volk ja schon 1986 mit diesem Preis ausgezeichnet wurde.

Es ist mir ein Herzensanliegen zuerst die Bürger der Europastadt Aachen herzlich zu grüssen. Mein besonderer Gruß gilt dem ersten Bürger dieser Stadt, Herrn Oberbürgermeister Linden, dessen Rede ich nachlesen werde, um noch einmal in den Genuss derselben treten zu können. Ich mag doppelte Genüsse sehr.

Lieber Helmut Kohl, ich möchte mich vor allem bei Dir bedanken.

Es ist deshalb auch für mich nicht nur eine Ehre, sondern auch eine Freude - und in Ehre und Freude schwingt ja auch ein bisschen Stolz mit, das bin ich nämlich auch heute, - deshalb eine Freude, weil ich den Karlspreis mit Dir teilen darf. Du wurdest mit dieser Auszeichnung 1988 bedacht - 18 Monate vor dem Fall der Mauer, zweieinhalb Jahre vor der deutschen Einheit, und Jahre vor der sich seit Anfang der 90ger Jahre anbahnenden
europäischen Wiedervereinigung.

Du bist für mich der Europäer den ich am meisten bewundern hab lernen, der Europäer par excellence der immer im Zweifel der europäischen Karte die Vorfahrt gab, auch wenn dies im eigenen Land sehr oft auf Unverständnis gestoßen ist, weil Du immer der Auffassung warst, letztendlich wird sich die europäische Lösung als die richtige, auch deutsche Lösung herausstellen.

Die meisten Deutschen wissen wahrscheinlich nicht, was sie Dir verdanken, weil wenn Du in den europäischen Vorzimmern und Vorräumen die Tür zur deutschen Wiedervereinigung nicht aufgestoßen hättest, dann wäre diese europäische Einigung nicht das normale Bett geworden, in dem die deutsche Wiedervereinigung, die deutsche Einheit Platz nehmen könnte.

Nun vergessen die Deutschen, wie alle Völker, ein bisschen schnell. Und weil ich ein Freund der Deutschen bin, und weil nach all den Irrungen und Wirrungen der Zeit, die Deutschen uns noch nie so gute Nachbarn waren, wie sie es uns heute sind, stelle ich die Frage: Wieso können die Deutschen nicht auf die deutsche Wiedervereinigung stolz sein? Es gibt tausend Gründe um auf die deutsche Wiedervereinigung, in europäischer Einheit eingebettet, stolz zu sein, statt zu lamentieren.

Manchmal denke ich, ich wäre der einzige Politiker der der deutschen Sprache noch mächtig ist, der so einen Satz überhaupt noch zu sagen wagt.

Die deutsche Einheit, meine Damen und Herren, ist kein Zufallsprodukt. Sie ist ein Ergebnis von Politik. Sie ist das Ergebnis von europäischer Politik. Das darf man nie vergessen. Adenauer hat den klugen Satz vorformuliert, dass deutsche Einheit und europäische Einheit zwei Seiten einer Medaille sind. Und er hat Recht behalten, weil die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg sehr konsequent den europäischen Weg gegangen sind.

Nun sind wir in Europa an einer Schnittstelle angekommen. Und um diese Schnittstelle herum herrscht schrecklich viel Lärm. Und der Lärm entsteht deshalb, weil die Europäer, vor allem die Deutschen - weil Larmoyanz ja die neue deutsche Tugend geworden ist - sich über Europa nur noch beklagen, statt sich an Europa und über Europa zu freuen.

Gott sei Dank sehen auch andere uns zu, die nicht Europäer sind. Afrikaner, Asiaten, ja selbst Amerikaner hören nicht auf über die europäischen Erfolge zu staunen. Die einzigen die über europäische Erfolge stöhnen, das sind die Europäer selbst. Ich kann es eigentlich nicht begreifen.

Gott sei Dank gibt es die anderen, die uns von fern manchmal auch auf die Finger schauen. Sie kennen unsere Schwächen viel besser als wir sie kennen. Aber sie kennen auch unsere Stärken wesentlich besser als wir unsere eigenen Stärken kennen. Wir sind nicht genug stolz auf das, was in Europa erreicht wurde. Und es wurde viel in Europa erreicht.

Drei Beispiele nur, aber drei Beispiele die es in sich haben und die bis heute den Rest der Welt in hohem Masse beeindrucken.

Ich fange dort an, wo alles aufhört und wo alles anfangen muss, bei dem Thema Krieg und Frieden.

Ich höre aus den renommiertesten Mündern, dass der Friedensdiskurs bei jungen Menschen nicht mehr ankomme. Und es ist wohl auch wahr, dass jüngere Menschen etwas schwerhörig geworden sind für diesen Diskurs. Trotzdem bleibt es für mich etwas in der Geschichte der Welt, Unerreichtes, ja eigentlich nicht mehr zu Erwartendes, dass auf diesem gepeinigten Kontinent, auf diesem martyrisiertem Kontinent 1945, als die Menschen, Männer und Frauen, von den Frontabschnitten und aus den Konzentrationslagern in ihre zerstörten
Städten und zerbombten Dörfer zurückkehrten, diesen ewigen, immer wiederkehrenden Nachkriegssatz „Nie wieder Krieg“ nicht nur wiederholt haben, sondern dass dieser Satz zum allerersten Mal zu einem Gebet für Millionen, zu einer Hoffnung für einen ganzen Kontinent und zu einem politischen Programm wurde, das kluge Männer und Frauen in der Politik, regelrechte Staatsmänner und Staatsfrauen aus diesem Satz ableiteten.

Wieso sind wir so undankbar geworden für diese gewaltige kollektive Lebensleistung unserer Eltern und Grosseltern, die einen endgültigen Schluss unter europäischen Krieg und europäischen Tod - die Generation die Anfang des 20. Jahrhunderts geboren wurde, wurde von einer Todesspur in die andere getrieben - wieso sind wir nicht stolz auf diese kollektive Lebensleistung unserer Eltern und Grosseltern, die nicht geklagt haben, die nicht verzagt haben, sondern die das Europa gebaut haben, in dem wir heute in der Freiheitssonne leben?

Ja, es mag stimmen, junge Menschen sind schwerhörig geworden wenn es um Krieg und Frieden geht. Genau deshalb, und weil man ihnen daraus keinen Vorwurf machen kann, wer nicht gekannt hat was Krieg bedeutet, kann nicht ermessen was Frieden ist. Aber weil es so ist, sollten Besuche auf Soldatenfriedhöfen zum obligatorischen Schulfach werden. Dann kann man begreifen wieso und weshalb Europa sein muss.

Europa, Friedenskontinent.

Das zweite Beispiel, ein aktuelleres.

Europa, Währungskontinent. Und ich äußere mich auf den Zehenspitzen, sur la pointe des pieds, zu diesen Problemen, wenn ich den Präsidenten der europäischen Zentralbank im Rücken weiß.
Ja, ich lasse das einmal bei Seite, was mir jetzt noch eingefallen wäre.

[…] Wir haben es geschafft in Europa, nach dem was die Geschichte uns zugefügt hat, und wir der Geschichte zugefügt haben, diesen Kontinent währungspolitisch auf einen Nenner zu bringen. Noch nicht ganz, aber wir sind unterwegs. Niemand hatte uns das zugetraut. Ich könnte hier anekdotenhaft berichten aus vielen Gesprächen mit dem amerikanischen Präsidenten Clinton und anderen, die dem Unterfangen, Europa währungspolitisch zu einer Einheit zu formen, eigentlich sehr skeptisch gegenüber standen. Vor allem übrigens deutsche Professoren, die ich sehr herzlich begrüßen möchte, und dass sie sich gründlich geirrt haben. Weil der Euro ist da - die Professoren allerdings auch noch.

Die europäische Währungsunion, der Euro, ist eine gemeinsame Leistung der Kohl-Mitterrand-Generation und meiner Generation. Kohl und Mitterrand, wegen ihrer klugen Wegweisung, und die Männer und Frauen meiner Generation, weil wir wie sie begriffen hatten, dass das Währungspolitische national, exklusiv national, aufgestellt sei, letztendlich Europa zu einem währungspolitischen und damit auch wirtschafts- und weltpolitischen, zwar laut redenden, aber keine Impulse gebenden Werk machen würden.

Das haben wir geschafft als Europäer. Niemand hatte uns das zugetraut, und das Prä-Euro-bodybuildingsprogramm das wir vorlegen mussten, hat einige Politiker in Europa ihre Ämter gekostet. Hat uns aber den Euro gebracht.

Im Übrigen, wenn ich mir die Liste derer, die den Maastrichter Vertrag 1991 unterschrieben haben, sehr genau ansehe, stelle ich fest: Der Euro und ich, wir sind die einzigen Überlebenden des Maastrichter Vertrages.

Aber wir sind mit der europäischen Währungskonstruktion nicht fertig. Der politische Arm, der wirtschaftspolitische Arm der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion muss gestärkt werden. Europäische Wirtschafts- und Währungspolitik ist nicht nur Geldpolitik. Wir dürfen auch durch wirtschaftspolitisches Nichtstun die Geldpolitik nicht überfordern und überfrachten. Ich plädiere sehr engagiert für eine stärker koordinierende europäische Wirtschaftspolitik, damit die Geldpolitik wirtschaftlich so unterlegt 4 werden kann, dass aus der ganzen Wirtschaftspolitik und Währungspolitik etwas wird, was europäisches Wachstum ankurbelt, und wovon der Rest der Menschheit in großem Masse wird profitieren können.

Dass wir vom Euro in hohem Masse Nutzen ziehen, wird ja auch nie gesagt. Auch nicht von mir. Ich frage mich manchmal, wie kann das sein, dass wir eigentlich so erklärungsfaul geworden sind? Man müsste den Menschen doch erklären können - und es wäre auch einfach - was aus Europa, aus seinen Wirtschaftsräumen, aus seinen Währungen in den letzten 10 Jahren geworden wäre, wenn es den Euro nicht gegeben hätte, diese Solidaritätsdisziplinklammer die der Euro darstellt.

Nach dem ersten Krieg in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, auf dem Balkan - was wäre aus unseren Währung geworden, wenn es nicht auf dem Wege zur Euroeinführung kollektive Disziplin in hohem Masse gegeben hätte? Was wäre passiert nach dem 11. September? Nach den südamerikanischen, russischen, südost-asiatischen Finanzkrisen? Was wäre passiert nach dem Irakkrieg? Was wäre passiert angesichts der tobenden Ölkrise, wenn es jetzt nur noch 14 nationale Währungen, statt einen Euro gäbe? Und was wäre passiert in Europa nach dem Nein der Franzosen, und nach dem Nein der Niederländer?

Ich war doch 1992 dabei als junger Finanzminister, als die Dänen die Nein votiert haben, und als die Franzosen millimeterweise nur den Sprung in das Ja-Lager geschafft haben. Und wir haben doch als Finanzminister damals in Washington getagt, weil wir Angst hatten, hier in Europa würde es zu einer unwahrscheinlichen Währungskrise kommen, wenn das französische Nein seinerseits millimeterweise gewonnen hätte.

Nein, nein, nein, der Euro schützt die Europäer in einem unerhörten Masse. Und es ist unerhört, dass wir Politiker es nicht schaffen, weil wir zu faul sind dies zu tun, den Menschen zu erklären, dass der Euro sie schützt und dass nationale Währungsalleingänge die europäische Wirtschaft ins totale Abseits geführt hätte.

Drittes europäisches Erfolgsbeispiel.

Die Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa.

Viele mögen den westeuropäischen Schritt in Richtung Ost- und Mitteleuropa überhaupt nicht mehr. Auch das bleibt mir irgendwo letztendlich schleierhaft.

Wer sich die Kriegsordnung und die Nachkriegsordnung der 40ger und 50ger Jahre vor Augen und in Erinnerung führt, wird doch unschwer feststellen können, dass dies eine regelrechte Gefechtsordnung war, die wir nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa vorgefunden haben, eine virtuelle Konflikt-, Konfrontations- und auch Kriegslogik.

Ich bin noch, und die Männer und Frauen meiner Generation, in Angst vor russischen Raketen aufgewachsen. Und die Menschen in Prag, in Budapest, in Warschau hatten doch Angst, weil sie ihnen eingeredet wurde, - weil es sie vielleicht auch gab - vor der Nato-Aggression und Aggressivität. Mir ist es lieber, die Menschen aus Prag, aus Warschau, aus Budapest, aus Ljubljana richten heute ihre Hoffnungen auf Westeuropa anstatt dass
die Raketen auf Westeuropa gerichtet sind.

Und die Menschen haben Ende der 80ger, Anfang der 90ger Jahren in Europa, was schon lange nicht mehr passiert war, selbst wieder Geschichte gemacht, anstatt dass Geschichte gegen sie gemacht wurde. In Dresden, Leipzig, an vielen anderen Orten Ost- und Mitteleuropas, haben die Menschen die Geschichte selbst in die Hand genommen, statt Geschichte nur passiv zu erdulden, und zu Gefangenen der Geschichte zu werden. Ganze Völker wurden zu Architekten der Geschichte, statt zu den Sklaven der Geschichte zu werden.

Und wir freuen uns nicht darüber, dass es uns gelungen ist, diese seit 1989 22, seit letzten Sonntag 23, neu entstandenen Staaten in und um Europa herum in den Kanal der europäischen solidaritäts- und friedensbildenden Gewässer zu führen? Ja, hätten wir denn Anfang der 90ger Jahre bis in diese Tage hinein 22, 23 Staaten sich selbst finden lassen sollen, sie in die freie Wildbahn intergouvernementaler Kräftemeierei entlassen sollen? War es nicht besser, weil sie es auch wollten, dass wir sie aufnehmen in dieser europäischen Solidaritäts- und Friedenssphäre?

Es würde dem Kontinent heute viel schlechter gehen, es gäbe viel Unordnung auf dem Kontinent, ja Chaos auf dem Kontinent, wenn wir Ost- und Mitteleuropa und Westeuropa nicht auf dem Wege der Wiedervermählung europäischer Geschichte und europäischer Geographie ideal hätten zusammenführen können, bei allen Schwierigkeiten die dieser Prozess mit sich gebracht hat.

Am 1. Mai 2004, als wir in Dublin den Beitritt der 10 neuen osteuropäischen, mitteleuropäischen und Mittelmeerstaaten in die Europäische Union feiern konnten, das war doch der Tag an dem Jalta begraben wurde.

Das war doch dies der endgültige Sieg der Zivilisation über die Verrücktheiten der Herren Stalin und Hitler.

Wieso freuen wir uns eigentlich nicht darüber, dass nicht Stalin sondern Churchill Recht behalten hat? Churchill, der 1947 in Den Haag, unweit von hier, anlässlich des ersten Kongresses der Pan-Europabewegung gesagt hat, und angesichts der Weigerung der Sowjets Ost- und Mitteleuropa vom Marshallplan Nutzen ziehen zu lassen, und angesichts der Weigerung der Sowjets, die ost- und mitteleuropäischen Staaten zu Mitgliedern des Europarates werden zu lassen, damals hat Churchill den Satz gesagt: „Heute fangen wir im Westen an was wir eines Tages im Osten zu Ende führen können“.

Da sind wir. Stalin hat verloren, Churchill hat gewonnen, und wir freuen uns nicht darüber!

Und jetzt können wir endlich, nach so langen Jahrzehnten der Trennung wieder ganze Europäer sein - Luxemburger und Europäer, aber Luxemburger und Europäer in Rom, in Berlin, in Aachen, aber auch in Prag und in Warschau. Ich bin gerne überall in Europa ganzer Europäer. Und das können wir jetzt tun, nach der Wiedervereinigung des europäischen Kontinentes.

Damit dies nicht alles in sich zusammenbricht, muss daran gearbeitet werden, dass die Europäische Union ein Erfolg bleibt. Dafür gibt es einfache Regeln die man beachten muss. Zum Beispiel sollten Staats- und Regierungschefs, Fachminister, andere, sich nicht nur dann zu Europa zu Worte melden, wenn sie etwas Schlechtes über Europa zu sagen haben.

Man kann doch nicht erwarten, dass den Menschen in Europa, wenn von Montags bis Samstags Premierminister, Präsidenten, Minister erklären, das wäre alles sehr unmöglich was da in Europa gemacht würde, man müsste sich dauernd wehren, man müsste kämpfen gegen die anderen, und dann erwarten, wenn die Menschen Sonntags zur Volksbefragung aufgerufen werden, dass sie dann plötzlich die von allen als sehr hässliche beschriebene Braut, zu ihrer Herzdame erklären. Das wird nie gehen! Das wird nie gehen!

Und deshalb wäre es angebracht, wenn europäische Spitzenrepräsentanten sich zu europäischen Dingen freundlicher, das heißt objektiver, äußern würden. Und nicht den Eindruck geben würden, als müssten wir Europa gegeneinander regieren.

Nein, wir müssen die Europäische Union zusammen regieren, und sollten deshalb damit aufhören diese Europäische Union selbst schlecht zu reden.

Es gibt eine zweite Methode, die zum Erfolg führt. Nämlich das Beibehalten der Methode, die es uns erlaubt hat, zum Erfolg zu kommen: die Gemeinschaftsmethode.

Das ist die europäische Regierungsmethode. Die Kommission schlägt vor, Rat und Parlament müssen gleichberechtigt entscheiden. Der Kommissionspräsident ist nicht der Vollzugsvollstrecker der Premierminister. Er sollte ihr Inspirator sein. Das Parlament ist demokratisch legitimiert. Und die nationalen Regierungen haben auch nationale Interessen zu vertreten, und dürfen deshalb nicht als europäische Putschisten verscholten werden.

Ich habe mit den beiden Kanzlern, die hier sitzen, manchen Streit austragen müssen. Nicht nur in Sachen Steuerpolitik, im Übrigen. Da wusstet selbst Ihr, dass ich Recht hatte, die Debatte hat nie lange gedauert. Auch über viele andere Dinge haben wir gestritten. Aber ich habe doch nie den Eindruck gehabt, wenn Meinungsverschiedenheiten auch scharf ausgetragen wurden, dass wir deshalb zu Feinden geworden wären.

Das ist doch europäische Demokratie, dass man Meinungsverschiedenheiten auch austragen muss.

Wenn im deutschen Bundestag zwischen Regierung und Opposition debattiert wird, sagt ja niemand, Deutschland steckt in einer tiefen Krise. Wenn wir in Europa miteinander streiten, dann sind wir in Europa sofort am Rande der Krise angelangt.

Dabei haben wir zur Zeit eine europäische Krise - nicht dort wo man denkt, sondern dort wo man sie eigentlich hätte vermuten müssen, weil es um die Völker Europas geht. 50% der Menschen in Europa hätten gerne mehr Europa, und 50% der Menschen denken, wir hätten schon Europa zu viel. Das ist die europäische Krise.

Dass in den 50ger, 60ger und 70ger Jahre alle Bürger Europas auf unserer Seite wussten, und wir auch auf ihrer Seite waren, und dass man jetzt mit einer zweigespalteten, in der Mitte getrennten, europäischen - sprich 25 Mal nationalen - Öffentlichkeit zu tun hat. Und deshalb sollte man sehr gut auf falsche Zwischenzungenschläge achten, meine Damen und Herren.

Ich mag, obwohl ich die Debatte verstehe, das Gespräch über große und kleine Mitgliedstaaten in der Europäischen Union überhaupt nicht. Erst einmal weiß ich sofort wo ich hingehöre. Ich bin ein Spezialist kleinerer Einheiten, und davon verstehe ich was. Ich weiß, was bei mir im Lande los ist. Ob jeder deutsche Bundeskanzler das immer wusste, jeder französische Staatspräsident das immer wusste, jeder spanische Ministerpräsident das immer wusste, was los bei den vielen Menschen ist die es dort zu regieren und zu betreuen gibt, das mag ich manchmal zu bezweifeln.

Aber dieses unsägliche Aufkochen dieser sich immer wieder einstellenden Grundsatzdebatte, ob klein oder groß in der Europäischen Union gleichberechtigt sein sollte, ist ein Unding. Kleine müssen wissen, dass sie klein sind. Und ich sage ihnen, das vergessen die sehr selten. Manchmal blasen wir uns kräftig auf. Man muss uns ja sehen. Aber Grosse müssen auch lernen, dass sie ohne die Kleinen rein gar nichts in der Europäischen Union zustande bringen. Rein gar nichts.

Und genau deshalb sollten wir auch nicht über die Vereinten Staaten von Europa reden. Da fällt es wohl sehr Recht, Nationen sind keine provisorische Erfindung der Geschichte, sie sind auf Dauer angelegt. Ich möchte nicht Bürger der Vereinten Staaten von Europa werden, und würde mich auch dagegen wehren wenn jemand mich da zwangseingemeinden würde.

Ich bin gerne Luxemburger und Europäer. Ich brauche keine beiden Staaten, ich brauche Ruhe, Ordnung, Sicherheit, Frieden in Europa. Das reicht mir. Ich brauche keine europäische Fahne, die ich grüssen muss. Es wurden zu oft in Europa die falschen Fahnen gegrüßt.

Nun will es ja der Zufall, dass heute auch der Vertreter eines kleinen Landes den Karlspreis kriegt - es hätten ja auch noch größere zur Auswahl gegeben -, und zwar zum zweiten Mal. Ich habe das anfangs schon gesagt.

Und so ein kleines Land wie Luxemburg, so ein tüchtiges und mutiges Volk wie die Luxemburger, die wissen sehr genau - weil sie immer die Opfer der deutsch-französischen Konflikte waren, weil Deutschland und Frankreich nie ein anderes Territorium fanden als dieses kleine Luxemburg um aufeinander zu prallen - wir wissen ganz genau, was Nicht-Europa bedeutet.

Und deshalb gehört dieser Preis den ich heute kriege vor allem dem luxemburgischen Volk. Merci.

Wir müssen weitermachen auf diesem europäischen Weg. Und deshalb brauchen wir diese europäische Verfassung. Diese europäische Verfassung ist nicht tot. Es reicht nicht wenn zwei sagen, etwas ist tot. Alle müssen sagen, es ist tot. So lange nicht alle den Tod festgestellt haben, so lange sollte man keine vorzeitigen Todesnachrichten aufgeben. Ich werde für diese Verfassung - auch wenn man sie vielleicht besser Grundgesetz genannt hätte - weiterhin kämpfen, bis dass alle der Substanz dieser europäischen Verfassung zugestimmt haben.

Und da haben wir keine 20 Jahre Zeit, wir haben ein paar Jahre Zeit. Bis zur Europawahl muss die europäische Verfassung, oder das europäische Grundgesetz, in trockenen Tüchern sein. Weil, wenn diese Generation dies nicht schafft - ich sage es ihnen ohne die Zukunft zu verunglimpfen - die nächste Generation wird es nicht tun. Die nächste Generation hat an Hitler und Stalin eine ähnlich verblasste Erinnerung wie ich an Wilhelm II und
Clemenceau.

Nein, es müssen diejenigen Europa dingfest machen, deren Väter noch im Krieg Soldat waren. Die Urenkel können es nicht mehr, es muss jetzt gemacht werden. Und wir sollten versuchen, dass alle immer alles machen.

Dieses Konzept des Kerneuropas ist kein belastbares, zukunftsfähiges, tragbares Konzept. Wir sollten nicht von vornherein, a priori, sagen, es gibt einige Dinge die machen wir zu viert, zu fünft, zu sechst, und die anderen Projekte werden von anderen erledigt.

Aber aus meiner prinzipiellen Weigerung sich auf ein Kerneuropa zu zu bewegen, sollten die, die gerne langsamer gehen, die, die dauernd auf den Bremsen sitzen, die die Bremsklötze unter das Gaspedal schieben, wann immer das europäische Werk an Fahrt gewinnt, die sollten auch nicht denken, dass wir Kerneuropa nie machen würden. Nein, Kerneuropa ist kein Konzept, aber Kerneuropa ist der einzige Ausweg aus der gesamteuropäischen Weglosigkeit wenn sich eine ungenügend große Zahl von Mitgliedstaaten auf gemeinsame europäische Ambitionen verständigen kann.

Nicht Avantgardist aus Prinzip. Ich kenne Avantgardisten die wissen nicht wohin sie wollen, die wissen nur, sie wollen als erste da sein. Das reicht nicht. Wir müssen gemeinsam Ziele formulieren. Und wenn es nicht geht, dann machen einige das, aber nicht einige a priori von der gemeinsamen Wegstrecke ausschließen.

Und wenn wir gerne hätten, dass Europa in den Herzen der Menschen wieder ankommt, müssen zwei Dinge passieren.

Ich könnte - aber die Zeit reicht ja nicht - über gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik, Justiz, innere Angelegenheiten, gemeinsame Gesundheitspolitik, […] viele Dinge reden - lassen wir das.

Ich möchte zwei Dinge sagen.

Wenn wir es nicht schaffen, in den nächsten 10 Jahren, aus dieser höchst erfolgreichen wirtschaftspolitischen Konstruktion Europa, auch eine sozialpolitisch erfolgreiche Europäische Union zu machen, inklusive die Massenarbeitslosigkeit in Europa abzubauen, dann wird Europa scheitern.

Man kann Europa nicht gegen die Befindlichkeiten der Arbeitnehmerschaft zu einem Erfolg führen. Das sind die meisten Menschen in Europa, die sind ja nicht blöder, die einfachen Menschen, als die selbsternannten Eliten, nein.

Wenn wir gerne hätten, dass Europa nicht auf der Strecke bleibt, dann müssen wir die europäischen Arbeitnehmer, via einen Mindestsockel an europaweit gültigen minimalen Arbeitnehmerrechten wieder für die Europäische Union begeistern.

Ohne Verfassung, ohne die Vervollständigung des Binnenmarktes, ohne diese Sozialdimension der Europäischen Union wird Europa, ob wir es wollen oder nicht, unbemerkt von uns allen, langsam zur gehobenen Freihandelszone. Und das merkt man am Anfang nicht. Das Gift der Freihandelszone besteht darin, dass man es nicht schmeckt und nicht riecht. Aber irgendwann wird sie da sein.

Wenn wir die europäische Integration nicht durch weiterführende integrationspolitische, und die Europäische Union nicht durch vertiefende Schritte weiterführen, werden wir in der Freihandelszone landen.

Und die Freihandelszone ist ein zu simples Konzept für einen eminent komplizierten Kontinent wie die Europäische Union. Und die Europäische Union muss politisch sein, sie ist nicht nur wirtschaftlich zu verstehen. Der Markt allein produziert keine Solidarität, weder Solidarität unter den Menschen noch Solidarität unter den Völkern. Und die brauchen wir, die Solidarität unter europäischen Völkern. Und deshalb muss auch das unsägliche Klagen über Nettozahler, und Nettoempfänger irgendwann ein Ende haben. Ein Einmonatkrieg ist teurer als 20 Jahre Europäische Union.

Und wir dürfen die Europäische Union nicht länger begreifen als eine Erfindung nur für uns selbst, als etwas, in das wir uns immer wieder nur für uns alleine, verlieben könnten. Nein, Europa hat auch eine Aufgabe in der Welt.

Europa ist nicht nur für Europa da.

So lange pro Tag weltweit 25000 Kinder den Hungertod sterben, so lange hat Europa seine Aufgabe in der Welt nicht erledigt. Und das größte europäische Projekt muss das sein, dass wir Europäer - und wenn es sein muss, wir allein - in den nächsten 30 Jahren Hunger und Armut von der Erdoberfläche vertreiben. Das ist europäische Pflicht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin gerne Karlspreisträger.

Ich gebe es unumwunden zu.

Ich hätte gerne, wenn alles vorbei ist, und endgültige Bilanzen gezogen werden und man nicht mehr antworten kann, weil andere nur noch schreiben, dass man schreibt und sagt: „Juncker hat den Karlspreis zu Recht erhalten. Er war seiner würdig, auch nachdem er ihn schon erhalten hatte.“

Vielen Dank für den Preis und vielen Dank für die Aufmerksamkeit.