Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen Marcel Philipp

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen Marcel Philipp

Verehrte Festgäste,

in der Proklamation des Karlspreises, die die Mitglieder der Corona Legentium Aquensis im Jahr 1949 verfasst haben, heißt es wörtlich:

„Nach zwei Weltkriegen, […] in denen das redliche Bemühen mehrerer Generationen um Überwindung imaginärer nationaler Gegensätze sich als vergeblich erwies, müht sich unsere in Trümmer gesunkene Stadt um ihr Lebensrecht. Aber sie ist, durch furchtbare Erfahrungen bereichert, mehr als je bereit, für die abendländische Einigung und, als unerlässliche Vorstufe dazu, für wirtschaftliche Einheit sich einzusetzen.“

Heute, fast 65 Jahre später, steht die Verleihung des Internationalen Karlspreises einmal mehr auch im Zeichen des Ringens um die Sicherung des Friedens. Die Lösung dieser so existenziell wichtigen Aufgabe wird wohl nie abschließend gelingen, sondern sie wird immer wieder neu erarbeitet werden müssen.

Aachen ist ein Ort voller europäischer Geschichte, Kultur und Symbolik. Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, dass ein Europa gelingt, in dem wir dauerhaft in Frieden leben können. Ihre Anwesenheit ist dabei Ermutigung und Ehre zugleich. Und so begrüße ich sehr herzlich den designierten Träger des Karlspreises 2014, den Präsidenten des Europäischen Rates, S.E. Herrn Herman Van Rompuy.

Es ist uns eine große Ehre, heute drei weitere Redner begrüßen zu dürfen und wir sagen herzlich willkommen in Aachen dem Premierminister von Georgien, S.E. Herrn Irakli Garibashvili, dem Premierminister der Republik Moldau, S.E. Herrn Iurie Leanc?, und dem Premierminister der Ukraine, S.E. Herrn Arseniy Yatsenyuk.

Es ist uns eine große Ehre, die Karlspreisträgerin des Jahres 2013 erneut hier in Aachen begrüßen zu können, die Präsidentin der Republik Litauen, I.E. Frau Dr. Dalia Grybauskaitė.

Wir freuen uns über die Anwesenheit des Karlspreisträgers 2011, des ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Herrn Dr. Jean-Claude Trichet.

Wir begrüßen den Karlspreisträger des Jahres 2001, den ehemaligen Präsidenten der Akademie der Künste, Herrn György Konrád.

Wir freuen uns über die Anwesenheit des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Prof. Dr. Norbert Lammert und des Vertreters der Bundesregierung, des Bundesministers für Gesundheit, Herrn Hermann Gröhe.

Gerne begrüße ich die Präsidentin des Landtages des Landes Nordrhein-Westfalen, Frau Carina Gödecke, sowie die Ministerin für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien, Frau Dr. Angelica Schwall-Düren.

Ein herzlicher Gruß gilt dem Vertreter der EZB, Herrn Frank Smets, und dem Ehrenpräsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, Herrn Drs. René van der Linden.

Wir begrüßen den Minister für Religiöse Angelegenheiten des Sultanates Oman, Herrn Sheikh Abdullah bin Mohamed Al-Salmi, den Minister der Finanzen des Königreichs der Niederlande und Vorsitzenden der Eurogruppe, Herrn Jeroen Dijsselbloem, und den Minister für Europäische Angelegenheiten der Republik Türkei, Herrn Dr. Mevlüt Çavu?o?lu.

Wir fühlen uns geehrt durch die Anwesenheit Ihrer Kaiserlich-Königlichen Hoheit Prinzessin Astrid von Belgien und seiner Kaiserlich-Königlichen Hoheit Prinz Lorenz Erzherzog von Österreich-Este.

Wir freuen uns über die Anwesenheit vieler Vertreterinnen und Vertreter des diplomatischen und des konsularischen Korps sowie der Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen und Glaubensgemeinschaften, und wir begrüßen zahlreiche Mitglieder des Europäischen Parlaments, des Deutschen Bundestages und des Landtages. Für den Karlspreisträger des Jahres 1951, den vormaligen Rektor des Europa-Kollegs, Herrn Prof. Brugmans, der viele Jahre treuer Gast der Karlspreisverleihungen hier in Aachen war, begrüße ich seine Witwe, Frau Hannah Brugmans-Kirsten.

Besonders herzlich begrüßen wir die Preisträger des Jugendkarlspreises, allen voran den Vertreter des Siegerprojektes aus Dänemark, Peter Laugesen.


Exzellenzen, meine Damen und Herren, die Lage des europäischen Projektes wurde am Sonntag von den Wählerinnen und Wählern beurteilt, indem über die neue Zusammensetzung des Parlamentes entschieden wurde. Die Benennung von europäischen Spitzenkandidaten war ein großer Fortschritt. Das muss jetzt seine Fortsetzung finden in der Besetzung der Kommissionsspitze, alles andere wäre ein schwerer Rückschlag für das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler in die europäische Politik.

Am vergangenen Sonntag wird vermutlich kaum jemand an die Karlspreisproklamation von 1949 gedacht haben, und auch die Römischen Verträge werden nicht Grundlage der jeweiligen Wahlentscheidungen gewesen sein. Es war eine Entscheidung im Jetzt, eine Entscheidung über Vertrauen und Misstrauen gegenüber den heute Handelnden.

Viele Menschen, die die Einigung Europas auf der Grundlage der schrecklichen Kriegserfahrungen auf den Weg gebracht haben, leben nicht mehr. Auch in unseren Familien gibt es kaum noch Zeitzeugen, die berichten könnten, wie es war, als Europäer sich gegenseitig beschossen und bombardiert haben.

Soldatenfriedhöfe sind Mahnmale, deren Wirkung sich niemand entziehen kann, der sie besucht – aber wer besucht sie heute noch?

Die Einigung Europas ist ohne Zweifel das erfolgreichste Friedensprojekt unseres Kontinents. Und zugleich stellen wir fest, dass das nicht mehr genügt als Erklärung für alles. Es genügt offenbar nicht, um eine angemessene Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament zu erzielen, und es genügt auch leider nicht zur Vermeidung von Renationalisierungsbewegungen.

Die Menschen richten ihre Fragestellungen nicht an Erfolgen der Vergangenheit aus, sondern an ihrer Wahrnehmung der aktuellen Situation:

Ist die Europäische Union in der Lage, mit einer Stimme zu sprechen und damit ein verlässlicher Partner zu sein, für die unmittelbar angrenzenden Staaten ebenso wie für andere Länder? Wie können wir auch Russland angemessen einbeziehen in die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen unseres Kontinents? Eine Haltung der Konfrontation gegenüber Russland kann nicht die Antwort sein, eine Vision von Europa muss anders aussehen. Eine Kultur des Austauschs, der Begegnung und der Konsultation hätten wir längst vertiefen müssen, nicht in erster Linie auf der Ebene der Regierungen und der Wirtschaft, sondern zwischen Menschen unserer Länder. Die direkten Anrainerstaaten sind dabei für uns ebenso wichtig wie auch Russland wichtig ist für Europa.

Wie solche Begegnungen der Menschen aussehen können, das zeigen uns die vielen Projekte im Rahmen des Jugendkarlspreises. Mit einer unglaublichen Dynamik bringen junge Leute Schwung in den Dialog zwischen Kulturen und Nationen. Wir brauchen noch mehr von dieser gegenseitigen Neugier, mehr von diesem Interesse füreinander, und mehr von dem Drang, vom Konsumenten zum Mitgestalter zu werden. In diesen Projekten werden dann auch die schwierigsten Fragen thematisiert:

Wie kann die Einigung Europas helfen, Chancen auf Arbeit und wirtschaftlichen Erfolg gerechter zu verteilen? Die Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher wird zur Perspektivlosigkeit Europas, wenn der Weg von der Schule über die Ausbildung in den Beruf so unzureichend funktioniert. Ganze Staaten verlieren den Anschluss, das ist das Gegenteil einer europäischen Einigung.

Wir kennen in unseren Ländern Instrumente der Solidarität und Ressourcenverteilung zwischen dem Gesamtstaat und seinen Teilen, bis hinunter zu den Kommunen. Eine verständliche und verlässliche Grundlage dafür, wie wir dagegen auf europäischer Ebene auf Dauer mit unterschiedlichen Wachstumsgeschwindigkeiten verfahren, fehlt bislang. Und damit hängt auch ein ehrlicher und transparenter Umgang mit Haushaltsdisziplin und Staatsverschuldung zusammen. Wenn die Bemessung von Zinsen nicht mehr als Regulativ für Risikoeinschätzungen dient, weil wir in Europa füreinander bürgen, dann müssen wir größten Wert legen auf neue funktionierende Mechanismen zur Eindämmung übermäßiger Verschuldung.

Und nicht zuletzt müssen wir gemeinsame Antworten finden auf die Fragen nach der Verantwortung Europas für Flüchtlinge, die aus den Krisenregionen der Welt zu uns kommen. Wir sehen Lampedusa und schauen doch weg. Wir begrüßen Flüchtlinge auch in Aachen und sind stolz auf die gut organisierte Solidarität der Bevölkerung, aber doch hoffen wir, dass es nicht so viele Flüchtlinge werden mögen, dass die Stimmung sich gegen die Solidarität wendet. Aber tun wir genug, um gerade in den Krisenherden der Welt Unterstützung zu bieten, die geeignet ist, Flucht und Vertreibung schon im Ansatz zu verhindern?

Die Agenda europäischer Politik ist heute eine andere als 1949, und auch der Rückgriff auf Karl den Großen kann nur noch mittelbar helfen.

Und so wird die Europäische Union sich immer wieder neu erfinden müssen, um die heutigen Probleme zu lösen und um den nötigen Rückhalt der Bevölkerung zu bekommen. Das erfordert die Benennung von Visionen, aber auch die Kraft und die Ausdauer, an deren Verwirklichung zu arbeiten.

Herman Van Rompuy stellt sich diesen Herausforderungen und beschreibt unerschrocken die politischen und die strukturellen Visionen der europäischen Zukunft. Seine Rolle als Präsident des Europäischen Rates nutzt er dabei, um den Weg dorthin zu gestalten, Schritt für Schritt, konsequent von Meilenstein zu Meilenstein. Pragmatisch und verhandlungsstark hält er die Fäden nationalstaatlicher Interessen zusammen. Das inzwischen erreichte Maß an europäischer Integration und Koordination ist maßgeblich Ihrer Arbeit zu verdanken, sehr geehrter Herr Van Rompuy.

Wir hören heute zusätzlich zu unserem ausgezeichneten städtischen Sinfonieorchester Musik, für die ich mich ganz besonders bedanken darf bei der Sopranistin Hanne Roos und dem Komponisten Dirk Brossé und bei Herman Van Rompuy, aus dessen Feder die vorgetragenen Texte, die sogenannten Haikus, stammen. Die Musik rahmt die drei Reden unserer Gäste aus Georgien, Moldau und der Ukraine ein. Im Anschluss daran kommen wir zur Verleihung des Karlspreises. Den Text der Urkunde darf ich bereits jetzt verlesen:

An Christi Himmelfahrt, dem 29. Mai 2014, wurde im Krönungssaal des Aachener Rathauses, der ehemaligen Kaiserpfalz, der Internationale Karlspreis zu Aachen an den Präsidenten des Europäischen Rates S.E. Herman Van Rompuy verliehen in Würdigung seiner bedeutenden Verdienste als Mittler, Konsensbildner und Impulsgeber für die europäische Einigung.

[Der Text der Medaille lautet: Karlspreis zu Aachen 2014 / Herman Van Rompuy / Integrationskraft für Europa]

Herzlichen Glückwunsch!