Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Verehrte Festgäste,

es wäre ein historisches Versagen, wenn die Osterweiterung der Europäischen Union weiter verzögert wird.

Die Völker Mitteleuropas gehören zur Gemeinschaft. Ihr Beitritt liegt im beiderseitigen Interesse - friedens- und sicherheitspolitisch, wirtschaftlich und kulturell.

Die jahrzehntelangen Leiden und Entbehrungen der Menschen zwischen Ostsee und Balkan sollten uns veranlassen, heute eindeutig auf ihrer Seite zu stehen.

Europa ist eine gleichberechtigte Wertefamilie. Auf dem Weg zur Integration darf die Union nicht Teil des Problems, sondern muß Mittel zur Lösung sein.

Mit der Osterweiterung sollte die beispiellose Erfolgsgeschichte der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft endlich auch die demokratische Beteiligung der Bürger am weiteren Entwicklungsprozess in Gang setzen.

Die Union hat ein Demokratiedefizit.

Wir Bürger wollen keinen europäischen Superstaat. Wir wollen Subsidiarität und Gestaltungsrechte, wollen wissen, wie die Gremien funktionieren und wie sie kontrolliert werden.

Wir müssen deshalb die europäische Demokratie neu denken und neu gestalten: das Verhältnis der Nationalstaaten zur Union, die Machtbefugnisse der Institutionen, vor allem aber die aktive und verantwortliche Rolle des souveränen Bürgers.

Der Gipfel in Nizza hat gezeigt, dass egoistisches Verhandeln einzelner Regierungschefs um nationale oder gar wahltaktische Vorteile dem Ansehen Europas eher schadet. Es ist gut, dass nach Nizza der deutsche Bundeskanzler und andere die Demokratisierungsdebatte entfachen. Damit stärken sie Europa.

Der diesjährige Karlspreisträger hat Einmischung in politische Prozesse immer als Teil seiner Lebensaufgabe empfunden. Er hat vor allem darauf hingewiesen, dass die Einbeziehung der Menschen in politische und wirtschaftliche Vorgänge unerlässlich ist und Teilhabe an der Verantwortung als höchster Ausdruck der Freiheit gilt.

Mit großer Freude begrüßen wir den Karlspreisträger des Jahres 2001, den ungarischen Schriftsteller und Soziologen György Konrád.

Mit ihm begrüße ich die Karlspreisträger früherer Jahre:

- für die Karlspreisträger 1969, die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, den damaligen Vizepräsidenten, Herrn Dr. Fritz Hellwig und den Kommissar, Herrn Dr. Hans von der Groeben,

- für den Karlspreisträger 1986, Seine Königliche Hoheit Großherzog Henri von Luxemburg

- den Karlspreisträger 1990, den damaligen Außenminister und späteren Ministerpräsidenten der Republik Ungarn, Herrn Dr. Gyula Horn,

- den Karlspreisträger 1997, den ehemaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Professor Dr. Roman Herzog, dem ich an dieser Stelle schon danken möchte für die große Ehre, die er uns mit der Laudatio auf den diesjährigen Preisträger erweist.

Besonders freuen wir uns über die Anwesenheit des Staatspräsidenten der Republik Ungarn, Herrn Dr. Ferenc Mádl.

Herzlich grüße ich in unserer Mitte den Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Dr. Johannes Rau.

Ich begrüße sehr gerne die diplomatischen Vertreter der Länder Bulgarien, Italien, Luxemburg, Mexiko, Niederlande, Schweden, Slowakei, Spanien, Ukraine, Ungarn.

Grüßen möchte ich auch den Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Dr. Rudolf Seiters.

Mit großer Freude begrüße ich den Bundesminister des Inneren, Herrn Otto Schily, und die Bundesministerin für Gesundheit, Frau Ulla Schmidt.

Herzlich grüßen möchte ich auch das Mitglied der Europäischen Kommission, Frau Dr. Michaele Schreyer.

Besonders freuen wir uns über die Anwesenheit des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Wolfgang Clement, sowie der Vizepräsidentin des Nordrhein-Westfälischen Landtags, Frau Edith Müller, und der thüringischen Wissenschaftsministerin, Frau Professor Dr. Dagmar Schipanski.

Gerne begrüße ich auch den Vorsitzenden der Freien Demokratischen Partei Deutschlands, Herrn Dr. Guido Westerwelle.

Wir freuen uns sehr über die Anwesenheit des Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Herrn Paul Spiegel.

Willkommen heißen wir den Präsidenten des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Herrn Dieter Philipp, und den Vorsitzenden der Stiftung Internationaler Karlspreis zu Aachen, Herrn Helmut Werner.

Darüber hinaus grüße ich den Erzabt von Ungarn, Monsignore Imre Asztrik Várzegi, und den Bischof von Aachen, Dr. Heinrich Mussinghoff, weitere Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften und viele andere, namhafte Persönlichkeiten, die uns durch ihre Anwesenheit ehren. Ihnen allen, die Sie an diesem heutigen Ereignis hier im Krönungssaal oder an Radio und Fernsehen teilnehmen, gilt der aufrichtige Gruß der Stadt Aachen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

das Ineinandergreifen politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse stellt das neue Europa vor entscheidende Aufgaben.

Nach dem Zerfall der Diktaturen und der Spaltung des europäischen Kontinents galt es im vorigen Jahrzehnt, die komplizierten Übergänge zu gestalten, neue konzeptionelle Ordnungsmuster zu bedenken und die Dynamik und Erfahrung der Integration zu nutzen.

Heute gilt es, das Bewusstsein für Europa zu schärfen und die Beteiligung der Bürger zu organisieren.

Europa ist kein einheitliches Gebilde. Es ist weder allein geographisch zu verstehen, noch als historische Einheit, weder nur als Wirtschaftsraum noch als Bürgergesellschaft.

Europa ist vielmehr ein dynamischer Prozess, in dem die kulturellen Erfahrungen und Werte noch am ehesten das Gemeinsame prägen:

das Christentum, die Impulse der Juden und Muslime, Renaissance und Aufklärung, die großen Soziallehren des 19. und 20. Jahrhunderts, schließlich die demokratischen Bewegungen. Dies ist ein großes kulturelles Erbe.

Die Schönheit eines romanischen Klosters in Burgund oder in Magdeburg, unverwechselbare Gestalten der Literatur wie Hamlet oder Don Quichotte, die Kulturlandschaften der Puszta oder die Alpentäler, italienisches Industriedesign oder neues dänisches Kino sind Teil des Reichtums, der unendlich und für jeden erfahrbar ist.

Diese Kostbarkeiten müssen wir nutzen für den gesellschaftlichen Zukunftsentwurf Europas.

Gerade die gemeinsame Lebens- und Werteerfahrung kann die Integration auf unserem Kontinent am einfachsten voran bringen.

Leider hat die Europäische Gemeinschaft von Anfang an die Kultur in ihren Programmen ausgespart und sie den Mitgliedsländern vorbehalten. Erst der Maastrichter Vertrag wollte einen Beitrag „zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt und unter gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes“ leisten.

Wir freuen uns heute über eine Reihe guter Kulturinitiativen wie Erasmus-Stipendien, Sprachschulen, Städtepartnerschaften oder Forschungsverbünde, die Aktivitäten in Kulturhauptstädten oder die Unterstützung kultureller Veranstaltungen europäischen Zuschnitts.

Allerdings: Die EU beschränkt ihre kulturelle Phantasie auf ein Mindestmaß ideeller und finanzieller Hilfen.

Wo ist der Dialog der Intellektuellen, der jenseits politischer Alltagsfragen Einfluss auf die politischen Gremien nimmt? Wo ist der Europäische Kulturfonds, der das interkulturelle Zusammenleben fördert? Wo ist die europaweite Jugendorganisation?

Wir brauchen endlich eine europäische Kulturpolitik, die Vielfalt als Vorteil und das Gemeinsame als Wertefundament versteht.

Václav Havel, Karlspreisträger 1991, beschrieb 1996 in diesem Saal Europa als gemeinsam geteiltes Schicksal, als gemeinsame komplizierte Geschichte, als gemeinsam geteilte Werte und eine gemeinsame Kultur des Lebens.

Ein solches Europa ist ein anspruchsvolles Projekt, in dem nicht die Zufriedenheit mit der jeweiligen Gegenwart im Mittelpunkt steht, sondern die Anstrengung und der Einsatz für eine bessere Zukunft.

György Konrád lebt dieses Engagement. Er beschreibt den europäischen Traum Zeit seines Lebens mit Zuversicht und Optimismus. „Europäer sind wir“ - so sagt er - „durch innere, komplexe Gehirntätigkeit, durch die flexible Handhabung unserer inneren Paradoxa, durch unser Vergnügen an der Formenvielfalt, durch die Verwandlung des Abwechslungsreichtums unserer Rollen in schöpferischer Spannung; Europäer sind wir dadurch, dass wir für andersartige Kulturen Verständnis haben und dass wir darauf vertrauen, uns dadurch nicht zu verlieren“.

Konrád fordert Vielfalt, fordert Pluralität, sieht gerade darin den Schatz, aus dem sich die Einheit speisen kann.

Konrád fordert auch, dass die europäischen Nachbarn wechselseitig über die Einhaltung der gemeinsamen Normen wachen. Keine Nation dürfe allein über Europa herrschen. Auch der Stärkere müsse sich in gewissem Maße vor dem Schwächeren verneigen. Eine gekränkte Nation sei immer ein schwieriger Nachbar; die Beleidigung schlage zurück.

Unermüdlich hat er gegen den Geist des Misstrauens, der Furcht und der Befangenheit geschrieben, hat er dem Einzelnen Mut gemacht für seine Weltanschauung, seine Bräuche, seine Sprache, seine Kultur oder einfach: seine Individualität. Immer wieder stritt er auch für den Frieden als unverzichtbares Element der menschlichen Gesellschaft, für die Einhaltung der Menschenrechte und für die Moral in der Politik.

Sehr geehrter Herr Konrád, als Weltbürger und europäischer Humanist haben Sie viel für Verständnis und Versöhnung, viel für das Zusammenwachsen der Völker Europas bewirkt.

„Ihr Europa“ war immer gegen die geteilte Welt von Jalta, gegen falsch verstandenen Nationalismus, gegen die Dominanz des einen über den anderen, auch gegen das wachsende ökonomische Ungleichgewicht gerichtet. Ihr Europa ist demokratisch, humanistisch und ein Netzwerk des über nationale Grenzen hinaus funktionierenden Geistes.

Dieses Europa ist ein Projekt, das sich ständig weiterentwickelt und alle Beteiligten einlädt, aktiv und verantwortlich mitzumachen.

In diesem Sinne sind und waren Sie ein beharrlicher Verfechter der Berücksichtigung Mittel- und Osteuropas beim europäischen Integrationsprozess.

In der Zeit des Kalten Krieges haben Sie - sogar unter Hinnahme persönlicher Benachteiligung - für eine stufenweise und vertraglich geregelte Befreiung der Länder hinter dem Eisernen Vorhang gestritten.

Heute weisen Sie darauf hin, dass die Ausdehnung Europas in diesem Jahrhundert nach Osten und Südosten ein notwendiges Ziel ist, dass Russland und auch die Länder des Balkan Teile Europas sind.

Eindringlich mahnen Sie uns, Europa dürfe nicht zum Stillstand kommen, erst recht nicht andere aussperren; denn: sollte es dies tun, würde es sich Feinde machen, bequem werden und geistig leicht ermüden; „Es würde das Große für das Kleine opfern, das Morgen für das Heute.“

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

György Konrád gehört zu den Denkern, die auf unserem Kontinent das Ausmaß der Freiheit immens vergrößert haben.

Sein Lebensweg, seine Werke und seine Träume weisen ihn als großen Europäer aus.

Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen ehrt mit György Konrád einen europäischen Schriftsteller und Soziologen von Weltrang, der Zeit seines Lebens im Sinne eines engagierten Aufklärers für das Zusammenwachsen Europas und für die Errichtung von offenen Gesellschaften gestritten hat.

Wir ehren eine bedeutsame moralische Instanz auf dem Weg in die Zukunft unseres Kontinents.

György Konrád steht heute stellvertretend für die Künstlerinnen und Künstler, die sich als geistige Brückenbauer für Europa engagieren.


Sehr geehrter Herr Konrád, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zum Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen 2001.