Rede von Frère Roger

Rede von Frère Roger

Eine Preisverleihung kann eine Hervorhebung der eigenen Person darstellen. 1985 und 1986 konnte ich den Preis nicht annehmen. In diesem Jahr hat es sich glücklich gefügt, daß Kinder mich begleiten, und ihr Dabeisein ermöglicht es, über sich selbst hinaus zu wachsen. Die Kinder erinnern uns an unsere eigene Kindheit. Sie stimulieren einen, das ganze Leben lang ein Stück weit mit dem Herzen eines Kindes vorwärts zu gehen.

Ich bin dankbar, daß in diesem Jahr alles vereinfacht wurde, daß das einigen wenigen vorbehaltene Festessen durch eine kleine Mahlzeit ersetzt wurde, die alle, alt und jung, miteinander teilen können. Wo die Phantasie verschwenderisch zum Zug kommt, ist es möglich, mit geringen Mitteln etwas Schönes zu schaffen. Die Einfachheit ist immer ein Feld des Vertrauens, au dem die Schüchternheit verfliegt.

Herzlichen Dank dafür dem Herrn Oberbürgermeister von Aachen, an Frau Waschbüsch und herzlichen Dank jedem von Ihnen. Aus der Tiefe des Bewußtseins zahlreicher Jugendlicher steigt ein ganz klarer Ruf auf: ein inneres Leben suchen und zugleich alles tun, um die Erde für alle Menschen bewohnbar zu machen. Es ist eine Tatsache, daß im Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts mansche Jugendliche an tiefer Enttäuschung, Skepsis und unter der hartnäckigen Frage nach dem Warum und Wozu leiden. In weit größerem Maß gibt es jedoch in allen Ländern erfinderische und schöpferische Jugendliche. Sie sind in der Lage, anderen, in Entmutigung befangenen Menschen den Lebenssinn nahezubringen. Diese Jugendlichen haben alles, um die Erde bewohnbar zu machen. Manche nehmen Wagnisse auf sich, um mitten in den Rissen zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West Sauerteig des Herzensvertrauens zu sein. Sie wissen, daß die die Erde bewohnbar machen auch bedeutet, alles zu tun, um den zukünftigen Generationen eine Welt zu übergeben, in der man leben kann. Wer wird angesichts der schnell um sich greifenden Schädigung der Umwelt gleichgültig bleiben?

Ja, diese Jugendlichen haben alles, um die Menschheitsfamilie aus einem Zeitalter des Mißtrauens, sogar der Verdächtigung die unser 20. Jahrhundert geprägt hat, herauszuführen und ein Zeitalter des Vertrauens und der Selbstlosigkeit vorzubereiten. Die Selbstlosigkeit ist eine so wesentliche Wirklichkeit. Als ich im Vorjahr zur Tausendjahrfeier der Taufe der Rus in Moskau eingeladen war, habe ich mehrmals mit einer jungen Russin gesprochen. Eines Tages zog sie aus ihrer Handtasche eine ganz zerlesene Ausgabe des Neuen Testamentes und sagte zu mir: "Meine Großmutter hat sie mir gegeben. Und sie fügte hinzu: Was mich am meisten im Leben meiner Großmutter geprägt hat, ist ihre tiefe Selbstlosigkeit, ihre Selbsthingabe; dies hat ihren Glauben an Christus für mich glaubwürdig gemacht.

Während desselben Aufenthaltes in Moskau zeigte man mir eines Tages die Bibel, die aus Anlaß der Tausendjahrfeier in 5000 Exemplaren gedruckt werden konnte. Dabei entstand die Idee, nach der Rückkehr in Taizé eine Million Ausgaben des Neuen Testaments auf Russisch, in der Textgestalt des Neuen Testaments der Tausendjahrausgabe, in Frankreich drucken zu lassen. Dies war kein Traum, es ist Wirklichkeit geworden. Vor ganz kurzer Zeit wurde die Million Ausgaben des Neuen Testaments mit Lastwagen nach Moskau, Minsk, Kiew und Leningrad befördert. Vor drei Wochen traf der letzte Lastwagen ein. Es ist ein Glück zu wissen, daß auf diese Weise das Neue Testament in eine Million russische Familien gelangt.

Heute wird mir ein Scheck überreicht. In der Gemeinschaft der Brüder, in unserer communauté, nehmen wir niemals Spenden, Geschenke und ebensowenig unsere persönlichen Erbschaften, nehmen wir nichts an. Wir möchten einzig von unserer Arbeit leben, ohne jede Kapitalreserve. Deshalb kann ich den Scheck nicht für Taizé annehmen. Er wird als Beitrag für die Sendung der Million Neuen Testamente nach Rußland verwendet.

Ich komme jetzt auf die Jugendlichen zurück und möchte sagen, was wir in Taizé durch die vielen jungen Deutschen entdeckt haben, die wir seit langen Jahren dort aufnehmen.

Die deutsche Seele hat zu einem großen Teil so oft aus einer Quelle inneren Lebens sogar mystischen Lebens geschöpft. Dies war schon im Mittelalter so. Später war unter einer Vielzahl anderer Johann Sebastian Bach dafür ein deutlicher Zeuge. Es ist frappierend, daß in der deutschen Seele so oft gleichzeitig auch außergewöhnliche Fähigkeiten liegen, Vorhaben in die Tat umzusetzen, Intuitionen zu konkretisieren.

Weiß man es zur Genüge? Wenn sich ein inneres Leben und die Fähigkeit, vorhaben in die Tat umzusetzen, in ein und demselben Menschen vereinen, gehen daraus Menschen hervor, die Unvorstellbares aufbauen können, um die Erde bewohnbar zu machen. Ich habe immer Vertrauen in die jungen deutschen Generationen gehabt. Noch heute entdecke ich indessen eine Wunde bei manchen jungen Deutschen. Ich möchte dies erklären.
Als ich jung war, begann mein Herz vor Auflehnung zu kochen, sobald ich begriff, daß in Europa eine Vertrauenskrise in den Menschen provoziert wurde, indem man das eine oder andere Volk einer verallgemeinernden Schuld bezichtigte. Wie kann man Verurteilungen hinnehmen, die ein Volk demütigen, in dem lediglich eine kleine Handvoll politischer Führer eines Tages in der Geschichte voll Grausamkeit das Räderwerk des Hasses, der Gewalt und des Krieges in Bewegung gesetzt hatte. Es ist wesentlich, niemals zu vergessen: es gibt keine schuldigen Völker, niemals hat es solche gegeben oder wird es solche geben.

Viele, viele Jugendliche bereiten heute ein Zeitalter des Verständnisses und des Vertrauens auf der Erde vor. Wenn die Christen unter sich eine Versöhnung suchen, ist dies niemals Selbstzweck, geht es auch nicht darum, größere menschliche Durchschlagskraft zu erzielen. Es geht uns ganz und gar darum, daß die versöhnten Christen Sauerteig des Friedens und des Vertrauens in der ganzen Menschheitsfamilie, unter Glaubenden wie Nichtglaubenden, seien.
In jungen Jahren habe ich dies bereits durch meine eigene Großmutter begriffen, die während des ersten Weltkrieges unter Bombenangriffen Menschen auf der Flucht bei sich beherbergte. Anschließend sagte sie sich: Christen haben sich gegenseitig in Europa getötet, wenigstens sie müßten sich versöhnen, sonst wird es immer wieder Kriege geben. Und sie suchte nach Zeichen der Versöhnung. Als ich 1940, zu Beginn des zweiten Weltkriegs, Taizé ins Leben rief, glaubte ich, den von meiner Großmutter gebahnten Weg gegangen zu sein.

Ich möchte etwas über einen anderen betagten Menschen sagen. In unserem Jahrhundert lebte ein Mann namens Johannes, der Zeuge der Versöhnung war. Dieser Mann hieß Johannes XXIII. Im Januar 1959 schrieb er Worte, die auf jeden Menschen, Glaubende wie Nichtglaubende, zutreffen. Sie lauten: Wir werden der Geschichte keinen Prozeß machen. Wir werden nicht danach suchen, wer recht und wer unrecht gehabt hat. Wir werden nur sagen: versöhnen wir uns. Diese Worte Johannes' XXIII. Eröffnen unberechenbare Perspektiven. Die geschichtlichen Prozesse, die immer wieder zwischen einzelnen, Familien, Christen und Nationen aufgerollt werden, und Rechthaberei anderen gegenüber machen uns unbeweglich, lähmen unsere schöpferischen Fähigkeiten.

Um Sauerteig der Gemeinschaft mitten unter der Menschheitsfamilie zu sein, gibt es eine Wirklichkeit, der alle anderen entspringen. Sie wird im Innern des Menschen lebendig. Sie trägt den Namen: Frieden des Herzens. Der Frieden des Herzens ermöglicht es weiterzugehen, wenn Fehlschläge und Entmutigung schwer auf unseren Schultern lasten. Und schon kommen in uns menschenmögliche Hoffnung auf, ein poetischer Lebenatem, eine einfache Art zu leben und - für alle, die es begreifen können - eine mystische Sicht des Menschen.

Eine unübersehbare Anzahl von Menschen auf der Erde schöpfen diesen inneren Frieden aus einer geheimnisvollen Gegenwart. Es ist die Gegenwart des Heiligen Geistes, der ausnahmslos jeden Menschen bewohnt, sogar jene, die sich dessen nicht bewußt sind. Aber der Geist Gottes drängt sich niemals auf. Man entfernte sich bereits von ihm, wollte man irgendjemandem das Geheimnis dieser Gegenwart aufzwingen.

In einigen Augenblicken werde ich zu denen sprechen, die den Saal nicht betreten konnten. Doch zuvor möchte ich noch ein Wort sagen. Wir alle wissen, daß Europa von weiten Zonen der Gleichgültigkeit dem Glauben gegenüber bedeckt ist, mit Kirchen, in denen sich oft keine Jugendlichen finden. Auf der ganzen Erde gibt es jedoch so viele Zeichen der Selbstlosigkeit, von denen das Leben so vieler Erwachsener, Jugendlicher und sogar Kinder geprägt ist. Durch sie können wir erahnen, daß wir aus einer Zeit der Furcht und des Mißtrauens heraustreten und sich eine Zeit des Vertrauens und der Herzensgüte anbahnt.

Wie groß ist indessen die Umkehr des Herzens, die allen, die in jedem Lebensalter, die jedem einzelnen abverlangt wird, um dorthin zu gelangen!

An die Jugendlichen auf dem Platz vor dem Rathaus

Durch den Frieden des Herzens und durch das Vertrauen, niemals durch Mißtrauen wird das Leben schön.

In den vergangenen Tagen, bei unserem Treffen in Ungarn, konnten so viele Jugendliche aus Ost und West bei 7000 Familien untergebracht werden - durchschnittlich zwei Jugendliche pro Familie - in der kleinen Stadt Pecs und fünfzig Dörfern der Umgebung. Andere wohnten in Schulen, die zur Verfügung gestellt worden waren. Die gemeinsamen Gebete fanden in Kirchen statt, aber auch im überdachten Stadion, das für drei Tage zu einer großen Kirche wurde. Was wir in Ungarn, in Pecs und dann in Budapest, erlebten übertraf unsere Erwartungen bei weitem. Hoffnung erfüllt uns.

Wir werden also weitersuchen: nach einem inneren Leben suchen und auch danach, was es bedeutet, die Erde bewohnbar zu machen.

Zu den Interkontinentalen Jugendtreffen, die Woche für Woche bis Anfang November in Taizé aufeinanderfolgen, gibt es noch ein anderes Treffen.
Jeweils zum Jahresende findet ein europäisches Treffen statt. Seit langem wird es in Westeuropa gehalten. In diesem Jahr findet das Europäische Treffen vom 28. Dezember bis zum 2. Januar in einem osteuropäischen Land statt. Es wird in Polen, in Wroclaw, in Breslau stattfinden.