Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Kurt Malangré

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Kurt Malangré

In der Zeit des Grauens des letzten europäischen Bruderkrieges, dessen Ausbruch sich bald zum 50. Male jährt, entstand inmitten des Hasses und der Entzweiung in einem kleinen Dorf in Burgund ein "Gleichnis der Gemeinschaft". ,,Aufbruch ins Ungeahnte" hat er 30 Jahre später über ein Kapitel seiner Tagebuchaufzeichnungen geschrieben. Dort heißt es in einem Absatz: ,,Als ich am 20. August 1940 in dieser menschlichen Wüste ankam, gab es nichts, wodurch ich diese jetzigen Tage hätte vorausahnen können, an denen vierzigtausend junge Menschen in Taizé versammelt sind. Und dazu kommen noch alle, die in der Ferne sind, alle, die uns sehr nahestehen, die zum Schweigen verurteilt, im Gefängnis sind und die um des Evangelismus willen oder um ihres Kampfes für Gerechtigkeit und Freiheit willen verfolgt werden. Mit allen zusammen, mit den Menschen überall auf der Erde sind wir berufen, aufzubrechen ins Ungeahnte." Es liegt wohl auf dieser Wegstrecke "ins Ungeahnte", daß er heute in Aachen verweilt, den wir nun an erster Stelle froh und dankbar bei uns von Herzen begrüßen dürfen als Karlspreisträger 1989: Den Begründer der Communauté von Taizè, Frère Roger.

Neben ihm begrüßen wir die Karlspreisträger früherer Jahre:

Den Karlspreisträger 1951,
den ehemaligen Rektor des Europa-Kollegs, Herrn Prof. Dr. Hendrik Brugmans,
den Karlspreisträger 1967,
den ehemaligen Minister für Auswärtige Angelegenheiten des Königreichs der Niederlande und vormaligen Generalsekretär der NATO, Herrn Dr. Joseph Luns,
für die Karlspreisträgerin 1969,
die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Herrn Kommissar Dr. Hans von der Groeben,
den Karlspreisträger 1977,
den damaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Walter Scheel,
den Karlspreisträger 1984,
den vormaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland,
Herrn Prof. Dr. Karl Carstens.

Ich heiße willkommen:
Die Herren Botschafter und Geschäftsträger Frankreichs, Irlands, Großbritanniens, Dänemarks, der Vereinigten Staaten von Amerika, der Niederlande, Luxemburgs und Griechenlands
den Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Dr. Cronenberg
und die anwesenden Damen und Herren Abgeordneten des Deutschen Bundestages
und für die Bundesregierung Herrn Bundesminister Dr. Norbert Blüm.

Unser Gruß gilt für die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen
Herrn Minister Schleußer und den anwesenden Damen und Herren des Landtages.

Wir freuen uns über die Anwesenheit der Herren Botschafter der Bundesrepublik bei den Europäischen Gemeinschaften und den Mitgliedsländern und grüßen herzlich für die Kommission
Herrn Kommissar Schmidhuber
und die weiteren Vertreter Europäischer Organe und Vereinigungen, unter ihnen den Präsidenten des Luxemburgischen Rates der Europäischen Bewegung, Herrn Lutz
und des Deutschen Rates, Herrn Dr. Philipp Jenninger.

Einen besonderen Willkommensgruß richten wir an die Präsidentin des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken, Frau Rita Waschbüsch,
den Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Herrn Peter Beier,
den Diözesanbischof von Aachen, Herrn Prof. Dr. Klaus Hemmerle, Herrn Bischof Dr. Lohse, Herrn Archimandrit Eumenios Tamiolakis und Herrn Dekan Faltermeier.

Bestens grüßen dürfen wir den Präsidenten des Rates der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens,
Herrn Ortmann
und Herrn Minister Fagnoul,
den Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte Europa-Mitte,
Herrn General von Sandrart,
die Mitglieder des Consularischen Corps und die Vertreter unserer Partnerstädte.
Und nun möchte ich einen ganz herzlichen Willkommensgruß richten an alle Mitglieder des Taizé-Kreises aus zahlreichen europäischen Ländern und sagen, daß wir über ihr Kommen uns sehr freuen.
Sie sind uns besonders liebe Gäste.
Wir sind geehrt durch die Anwesenheit so vieler namhafter Persönlichkeiten. Ihnen allen und ganz besonders auch den vielen, die auf den nahen Plätzen akustisch mit uns verbunden sind und all denen, die über Fernsehen und Rundfunk bei uns sind, gilt unser herzlicher Gruß.

Verehrte Anwesende!

Immer wieder hat Frère Roger zahllosen Menschen, die nach ihrem persönlichen Weg suchten, geraten: ,,Werde, was Du bist, werde, was Du im Grunde Deines Herzens bist!"
Gilt dieser Appell über jeden einzelnen hinaus nicht auch der Gemeinschaft unserer Völker, dem alten Europa, das jetzt gerade seinen Weg in die Zukunft entschlossen antritt?
Fortfall der Grenzen, freier Binnenmarkt für alle 320 Millionen Gemeinschaftsbürger, und dann der politische Zusammenschluß unserer Völker zum Bundesstaat Europa. Muß an diesem Beginn jetzt nicht ganz dringend die Frage nach dem inneren Gehalt, nach dem Fundament stehen? Gewiß ist die Schaffung dieses Binnenmarktes ab Anfang 1993 ein großes Unternehmen, der notwendige Schritt, von dessen Gelingen die anderen Schritte aufeinander zu abhängen. Die Gemeinschaft hat den Frieden in Europa einkehren lassen. Der Binnenmarkt ermöglicht es, unseren Platz im Gefüge der Weltwirtschaft einzunehmen, schafft und sichert Arbeitsplätze, und das betrifft Einzelschicksale und Familienschicksale von Millionen unserer Mitmenschen.
Nein, wir dürfen dieses Ziel ,,Binnenmarkt", dieses Unternehmen ,,Europäische Gemeinschaft", nicht gering schätzen. Es steht jetzt an, ist jetzt möglich; es zu versäumen, wäre unsere Schuld.
Aber Zahlen des Bruttosozialproduktes, des ökonomischen Wachstums, Wirtschaftsdaten, Fakten technischer Forschungs- und Entwicklungschancen, sie sind alleine nicht Europa.
Gerade jetzt, wo wir uns mit Fug und Recht und pflichtgemäß um all das mühen und unser Kontinent am Beginn einer neuen, von manchen ungeahnten Dynamik steht, wo wir das Leben in der eigenen Zwölfergemeinschaft und unsere Pf lichten gegenüber der Mitwelt kraftvoller gestalten und einlösen können, wo wir gegenüber jeder diktatorischen Gewalt die größere Gestaltungskraft der Freiheit und der demokratischen Ordnung beweisen können, gerade jetzt dürfen wir nicht im nur pragmatischen Machen versanden.
Jetzt tut der Blick auf die Fundamente, auf das Wesentliche not, wenn wir nicht alsbald auf Grund laufen wollen.
Jetzt müssen wir Frère Roger hören und alle alles daransetzen und einbringen, damit Europa das wird, was es ist, was es im Grunde seines Herzens ist:

Geburtsort der Menschenrechte, der Demokratie, Verantwortlichkeit gegenüber dem Schöpfer, der uns die Welt nicht zum Eigennutz freigab, Brüderlichkeit, Dienst und Glaube an den Gott und Vater aller Menschen. Es mag schon sein, daß wir im Wettlauf um den neuen Superchip, in Elektronik und Weltraum mit dabei sein sollen.
Aber zu Europa gehört zu unserem größten Glück noch viel mehr, gehören auch Johann Sebastian Bach und Thomas Morus, Franz von Assisi und Sokrates, Henri Dunant und Stephan der Große, Dietrich Bonhoeffer, Mutter Theresa und Frère Roger.
Ab 1940 rettete er, der damals 25-jährige, unter Einsatz seines Lebens politisch Verfolgte, insbesondere Juden. Nach 1945 galt seine Sorge Deutschen Kriegsgefangenen. Hierzu schreibt er: ,,Mehr denn je galt damals: Haß erzeugt Gegenhaß."
Erleben wir das nicht auch heute, auch wieder in unseren Ländern, daß sich Menschen aus extremen Positionen wieder in Haß und Unversöhnlichkeit drohend gegenüber stehen? - Politische Gewalttäter, fanatische Fundamentalisten, Extrempositionen linksaußen und rechtsaußen.

Frère Roger antwortet hierauf seit fast 50 Jahren mit dem Beispiel und Zeugnis seines ganzen Lebens, und es entstand diese Communauté von Taizé, in der sich Menschen aus verschiedenen Konfessionen, aus 20 Ländern der Erde brüderlich zusammenschließen als Gleichnis der Gemeinschaft mitten in Europa und von hier aus hinausgehend zu den Ärmsten der Erde nach Afrika, Amerika und Asien. Sie bauten ihr Gotteshaus und nennen es ,,Kirche der Versöhnung".
Frère Roger erinnert sich: ,,Als 1962 unsere Kirche der Versöhnung fertig da stand, konnten wir uns nicht an ihre übermäßige Weiträumigkeit gewöhnen, nun ist sie oft zu klein."
Frère Rogers Botschaft ist ansteckend. Viele Menschen auf unserem Kontinent wollen sich nicht abfinden mit Oberflächlichkeit oder Intoleranz. Nicht der Tanz um das goldene Kalb kann zum Schrittmaß Europas oder zum persönlichen Lebensrhythmus des Einzelnen werden, der trägt und erfüllt. Nein, Verständnis füreinander, Versöhnung der Gegensätze, brüderliche Verpflichtung voreinander, der Ruf nach dem Ferment universaler Gemeinschaft und Freundschaft, der Weg Frère Rogers zu den Quellen der Einmütigkeit im Glauben, das sind Aspekte, die Horizonte eröffnen, die den Einsatz lohnen, auch europäisches Erbe, das zum besten gehört und das es gerade jetzt zu wahren, zu nutzen, zu leben gilt und das verstanden wird. Das Konzil der Jugend beweist es, die großen Treffen in den Metropolen unseres Kontinents Tausender mit Frère Roger, die Lebensentscheidungen vieler junger Menschen höchstpersönlich beweisen es, und das Beispiel der Brüder von Taizé in den Elendsvierteln der Erde beweisen es ebenso, wie das aktuelle Bemühen der Communauté, die Hände auszustrecken zu den Ländern Osteuropas - tiefes Anliegen unserer Tage, gerade hier Brücken zu schlagen, eine Mauer zu überwinden, an der noch geschossen wird, Gegensätze abzubauen, Brüderlichkeit, Gemeinsamkeit zu geben und zu finden. Frère Roger ist gerade von einer Reise aus Ungarn zurückgekehrt.
Das, verehrte Anwesende, gehört zu den großen Hoffnungen Europas. Nicht nur die äußeren Grenzen sind abzubauen, sondern zuerst die inneren Bastionen und Wälle und Gräben. Das ist kein Angriff auf Individualität, auf spezielle Eigenarten der Menschen oder der Völker. Wir lieben die Vielfalt, die kulturellen Güter der Völker, den Charakter unserer Mitmenschen, wie die oft tief verwurzelten Wesensmerkmale unserer Heimatländer. Aber wir achten und lieben sie, wie man die besonderen Charakterzüge seines Bruders achtet und schätzt, und wir möchten die Hindernisse beseitigen, die uns voreinander abschließen, die uns einander nicht verstehen lassen. Frère Roger, Sie haben uns geholfen, zu uns selbst und zueinander zu finden. Sie helfen unserem Europa jetzt an der Eingangstür zum nächsten Jahrtausend, beim Aufbau seiner Zukunft sich selbst, seine Werte wieder zu finden. Wir möchten Ihnen dafür auch einmal ein ,,Danke" sagen können.
Ja, ich weiß, sie haben gesagt: ,,Was zählt, ist das Innere des Menschen. Das äußere Bild, das manche sich machen können, bedeutet nur wenig. Nein, mein innerer Mensch zieht ein gewisses Stillschweigen vor, er hält wenig von Erklärungen."
Oder ein andermal sagten Sie: ,,Öfter als früher fragt man mich: Was ist das Stärkste in Ihrem Leben? Ohne zu zögern erwidere ich: Vor allem das gemeinsame Gebet, und in diesem die langen Zeiten der Stille."
Nun, diese Stunde hier ist für Sie keine Stunde der Stille. Aber Sie haben stille Besinnung und Leidenschaft für die Welt miteinander verbunden. Sie haben jede äußere Ehrung bisher abgelehnt. Das verstehen wir. Uns geht es nicht nur darum. Diese Stunden, so denke ich, sind für Sie ebenfalls hingebender Dienst, eine Station auf dem Weg zur Einheit oder ein Familienfest. In wenigen Tagen ist wieder Ihr Geburtstag. In einem der Vorjahre erhielten Sie von einem Ihrer Brüder aus Buenos Aires ein Telegramm mit dem Wunsch: ,,Dein Fest sei ohne Ende."
Das wünschen wir Ihnen und Ihren Brüdern, uns allen. Und wir danken Ihnen für den Dienst Ihres Lebens, das Beispiel für Verstehen, Versöhnung, für Einheit und Gemeinschaft, für Glauben, für Hoffnung und für Liebe, Wegweiser für viele, Wegweiser Europas zu den Quellen. Daher hat das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des internationalen Karlspreises zu Aachen einstimmig beschlossen, ihnen, Frère Roger, den Karlspreis für das Jahr 1989 zu verleihen.