Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Verehrte Festgäste,

vor wenigen Tagen, am 8. Mai, haben wir den 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges begangen. Die Niederlage der nationalsozialistischen Terrorherrschaft war gleichzeitig die Geburtsstunde von Freiheit und Demokratie. Sie war Ausgangspunkt auch eines der besten Beispiele politischer Lernfähigkeit - dem Projekt der europäischen Einigung.

Noch über den Trümmerfeldern Europas wurde eine kreative Antwort auf die Existenzfrage formuliert: die Integration. Gegner von gestern sind zur Gemeinschaft von morgen geworden - trotz unterschiedlicher Mentalitäten, Traditionen und Interessen.

Viele betrachten das heute als Selbstverständlichkeit - betonen die Probleme der Einigung oder vermissen neue Utopien und Programme. Sie alle übersehen, daß es zur beharrlichen Erweiterung und Vertiefung der Union keine Alternative gibt.

Mit dem Jahresbeginn sind drei weitere Länder in den Mitgliedskreis der Europäischen Union eingetreten. In Österreich, Schweden und Finnland hat sich die Bevölkerung für den Beitritt ausgesprochen. Der Karlspreis 1995 will bewußt diesen Weg auszeichnen.

Ich begrüße sehr herzlich und mit großer Freude in unserer Mitte den Karlspreisträger 1995, den Bundeskanzler der Republik Österreich, Herrn Dr. Franz Vranitzky.

Mit ihm begrüße ich die Karlspreisträger früherer Jahre:

-den Karlspreisträger 1951, den vormaligen Rektor des Europa - Kollegs, Herrn Prof. Dr. Hendrik Brugmans

-den Karlspreisträger 1963, den früheren britischen Premierminister Sir Edward Heath

-für den Karlspreisträger 1969, die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, den damaligen Vizepräsidenten Dr. Fritz Hellwig und Kommissar Dr. Hans von der Groeben

-den Karlspreisträger 1977, den vormaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Walter Scheel.

Eine ganz besondere Freude bereitet uns mit seiner Anwesenheit der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Herr Prof. Dr. Roman Herzog.

Willkommen heißen wir den Ministerpräsidenten der Republik Finnland, Herrn Paavo Lipponen, dem ich an dieser Stelle schon danken möchte für die große Ehre, die er uns mit der Laudatio auf den diesjährigen Karlspreisträger erweist.

Herzlich grüße ich in unserer Mitte die Botschafter der Länder Belgien, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Indien, Israel, Kroatien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Slowakische Republik, Spanien und Zypern sowie Vertreter der Länder Kanada, Polen, Schweiz und Ungarn und die deutsche Botschafterin in Österreich.

Willkommen heißen wir die Familienangehörigen und die Delegation unseres heutigen Preisträgers, darunter den Bundesminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Herrn Rudolf Scholten, den Bundesminister für öffentliche Wirtschaft und Verkehr, Herrn Viktor Klima, die Bundesministerin für Gesundheit und Konsumentenschutz, Frau Christa Krammer, den Bundesminister für Inneres, Herrn Caspar Einem, den Bundesminister für Arbeit und Soziales, Herrn Franz Hums und den Bundesminister für Finanzen, Herrn Andreas Staribacher.

Herzlich begrüße ich den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Johannes Rau, die Präsidentin des nordrhein-westfälischen Landtages, Frau Ingeborg Friebe, sowie die Landesminister Anke Brumm, Wolfgang Clement, Rolf Krumsiek und Heinz Schleußer. Grüßen möchte ich auch den Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Herrn Rudolf Scharping.

Wir freuen uns über die Anwesenheit des Präsidenten des Europäischen Rechnungshofes, Herrn André Middelhoek sowie über weitere Vertreter europäischer Institutionen.

Darüber hinaus grüße ich viele weitere namhafte Persönlichkeiten, und die Vertreter der Kirchen, die uns durch ihre Anwesenheit ehren. Ihnen allen, die Sie an diesem heutigen Ereignis hier im Krönungssaal oder am Radio und Fernsehen teilnehmen, gilt der aufrichtige Gruß der Stadt Aachen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Österreich war einmal das Reich, in dem die Sonne nicht unterging, das Land, das so glücklich heiratete. Wohl kaum ein anderes Land hat die Geschichte Europas so mitgeprägt wie die Alpenrepublik.

Von Wien aus wurden große Teile des Kontinents regiert; auf dem Wiener Kongreß unter der Regie Fürst Metternichs die neue Ordnung Europas beschlossen.

Österreich hat nach dem Zweiten Weltkrieg von Anbeginn an den Bemühungen zur europäischen Zusammenarbeit und zur Integration der westeuropäischen Demokratien teilgenommen. Das Land war aufgrund seines politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens immer Teil der westeuropäischen Familie.

So war die breite Zustimmung Österreichs zum Beitritt der Union zwar konsequent, und dennoch zu diesem Zeitpunkt keine Selbstverständlichkeit. Sie ist vor allem auf das herausragende persönliche Engagement des Regierungschefs der Republik Österreich, Bundeskanzler Dr. Franz Vranitzky, zurückzuführen.

Gemeinsam mit Außenminister Alois Mock und anderen hat er gegen kurzsichtige Politikverdrossenheit und momentane Maastricht-Ablehnung Front gemacht. Immer wieder hat er verdeutlicht, daß die Europäische Union nach dem Ende des kalten Krieges zum "Bezugspunkt und Stabilitätsfaktor für Gesamteuropa" geworden ist. Neben wirtschaftspolitischen Erwägungen hat er vor allem auch die außen- und sicherheitspolitischen Argumente einer EU-Mitgliedschaft in den Vordergrund gestellt und erklärt, daß sich Österreich vollinhaltlich mit den Zielsetzungen der Europäischen Union identifiziere und "sich aktiv und solidarisch an ihrer dynamischen Weiterentwicklung beteiligen" werde. In Österreich wurde schon früher als anderwärts darüber nachgedacht, wie über die Trennungslinien politischer Lager hinweg das Bewußtsein gesamteuropäischer Gemeinsamkeit von neuem freigelegt werden kann. In einer Zeit, da auf Konfrontation die Kooperation folgte, kann Österreich dank seiner historischen Erfahrung und der Verflechtung zu den Nachbarländern in Mittel- und Osteuropa die Europäische Union beflügeln, die vielleicht nur in diesem Jahrzehnt bestehende Chance zur Einigung aller zu vollziehen. Solche Chancen bietet die Geschichte selten zweimal.

Europa hat durch den Beitritt Österreichs seine Möglichkeiten vergrößert, als Union einmal den gesamten europäischen Kontinent zu einen. Jetzt muß diese Chance genutzt werden.

Ihr Land, Herr Bundeskanzler, sollte mit Umsicht, Spürsinn und mit Gewinn für uns alle seine geschichtlich gewachsene Verbindung und seine geopolitische Lage nutzen, die Beziehungen zu den angrenzenden, um Demokratie und Frieden ringenden Regionen Osteuropas zu vertiefen und die Reformstaaten an die Europäische Union heranzuführen. Österreich hat Brückenfunktion wie kein anderer Mitgliedsstaat.

Ihr Land bereichert uns alle um eine ausgesprochene vielfältige Kultur, ein hohes soziales Bewußtsein und einen Lebensstandard seiner Bürger, der Maßstab für andere Demokratien sein kann.

Österreich stabilisiert die europäische Finanzkraft. Es fügt sich nahtlos in die Wirtschaftsstrukturen ein und trägt dazu bei, die Wettbewerbsfähigkeit der Union zu stärken.

Meine Damen und Herren,

die Schaffung des Binnenmarktes, die Öffnung Osteuropas und die Vereinigung Deutschlands haben die Zeichen in Europa auf Erweiterung und Vertiefung gestellt. Der Wohlstand, den europäische Kooperation bisher ihren Mitgliedern gebracht hat und der in den Steigerungsraten des Bruttosozialprodukts, des Pro-Kopf-Einkommens, der Lebenserwartung, der Bildung, der sozialen Sicherung und der Versorgung mit Konsumgütern dokumentiert ist, sollte schon bald der Orientierungspunkt für alle Europäer sein.

Allerdings, die Medaille hat auch ihre Kehrseite.

Lösungen auf die lang anhaltende Krise traditioneller Wirtschaftsbranchen stehen immer noch aus. Die Arbeitslosigkeit wird größer. Der Armutsanteil in den Bevölkerungen steigt. Das führt zu wachsenden Vertrauensverlusten.

Die Fortsetzung der ökonomischen Wachstumsideologie führt zu spürbaren Umweltzerstörungen, die - vor allem bei jungen Menschen - Zukunftsängste begründen.

Ängste verursachen auch das Wiedererstarken von falsch verstandenem Nationalismus, von Fremdenfeindlichkeit sowie das Anwachsen mafioser Kriminalität.

Ängste sind desweiteren verbunden mit dem fast aussichtslosen Kampf gegen Hunger und Elend in der Dritten Welt, sowie den daraus folgenden Immigrantenströmen.

Der fortdauernde Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien schließlich scheint für viele der letzte Beweis, wie wenig das Bündnis die Erwartungen seiner Bürger erfüllen kann.

In den Gründerzeiten, Anfang der 50er Jahre, hatte Europa Herz und Seele, aber keine Gestalt. Jetzt ist es eher umgekehrt: Zwar hat Europa Format angenommen, aber zu häufig ist noch ein Mangel an Zugehörigkeitsbewußtsein der Menschen festzustellen.

Der Einigungsprozeß rollt, politisch gewollt und vorwiegend wirtschaftlich bestimmt, über die Köpfe der Menschen hinweg. Europa wird von vielen als etwas Fremdes, manchmal gar Feindliches empfunden.

Zur eigenen Sache kann Europa aber nur werden, wenn erfahrbar wird, daß die persönlichen Interessen und Probleme in diesem Prozeß gut aufgehoben sind, daß die Fragen so bürgernah wie möglich behandelt und entschieden werden.

Eine inhaltliche Zustimmung und Identifikation mit Europa als einem sozialen und kulturellen Ganzen kann nur entstehen, wenn das europäische Projekt auch in den Herzen der Menschen verankert wird. Weshalb idealisieren wir die Gemeinschaft nicht als Friedensgemeinschaft, die sie seit fünf Jahrzehnten ist?

Weshalb stärken wir nicht den Maastrichter Vertrag und die Sozialcharta als ein Programm, das mit all seiner Kraft die Existenzsicherung der Familien und die soziale Ausgewogenheit zwischen den Menschen will?

Weshalb schreiben wir nicht endlich ein europäisches Umweltprogramm, das den Erhalt der natürlichen Lebensbedingungen zu einer der wichtigsten politischen Zielsetzungen erhebt und die ökologischen Schutzbestimmungen für alle Mitgliedsstaaten gleichermaßen verbindlich festschreibt?

Weshalb fördern wir nicht die Kraft der kulturellen Vielfalt in den Regionen und lassen uns wechselseitig am Reichtum der jeweils anderen Kulturen teilhaben?

Weshalb leisten wir uns kein Europaparlament, das gegenüber Kommission und Ministerrat eigene konstitutive Rechte hat?

Weshalb reduzieren wir die Städte und Gemeinden auf eine bloße Beratungsfunktion, ohne sie in der Kommission mit Sitzen und Stimmen zu verankern?

Weshalb schließlich streiten wir nur verbal für die Beteiligung der Bürger an der Gestaltung ihrer Gemeinschaft und lassen Bürgeranträge und -entscheide als unmittelbare Teilhabe an der Verantwortung nicht zu?

Europa muß über den "Kopf erfahrbar" gemacht werden. Europa muß antworten auf die Fragen der Europäer geben!

Meine Damen und Herren,
ein großes Gemälde von Max Ernst heißt "Europa nach dem Regen". Es war nach dem Zweiten Weltkrieg, das Portrait eines darniederliegenden Kontinents am Rande des Todes, eines Europas, das zum Opfer seiner Blindheit geworden war. In den letzten 50 Jahren haben die Völker Europas bewiesen, daß Gemeinsamkeit über die Grenzen hinweg keine Utopie bleiben muß. Aber wir haben bisher nur einen Teil des Weges zurückgelegt. Wir müssen ihn in Zukunft beharrlich weiter voranschreiten.

50 Jahre nach der Befreiung Europas vom Faschismus formuliert unser diesjähriger Preisträger: "Die Europäische Union ist die einzige Versicherung gegen die Wiederholung der Geschichte; und die europäische Ohnmacht gegenüber dem menschenverachtenden Krieg in Bosnien muß uns allen als Mahnung dienen."

Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen hat beschlossen, Ihnen, Herr Bundeskanzler Dr. Vranitzky, den Karlspreis 1995 zu verleihen.