Rede von Felipe González Márquez

Rede von Felipe González Márquez

Herr Bundespräsident,
Königliche Hoheiten,
Herr Oberbürgermeister der Stadt Aachen,
Exzellenzen,
liebe Freunde,

als ich vor einigen Monaten die Nachricht erhielt, daß die Stadt Aachen beschlossen hatte, mir den Karlspreis zu gewähren, fühlte ich mich tief bewegt und gleichzeitig sehr geehrt.
Allen, die mich kennen, ist bekannt, daß es für mich keine größere Belohnung gibt als die Genugtuung einer gut geleisteten Arbeit; denn es ist die Pflicht eines jeden Menschen, seine Aufgaben mit Würde und Strenge zu erfüllen.
Aber glauben Sie mir bitte, wenn ich Ihnen sage, daß ich diese Auszeichnung mit der Sie m. E. mehr mein Land als meine Person, mehr ein Projekt als konkrete Handlungen ehren wollen, heute hier in dieser schönen Stadt Aachen - verbrüdert mit Toledo und beide eminente Protagonisten der europäischen Geschichte - noch mit viel stärkerer Emotion empfinde.
Die eindrucksvolle Liste der Persönlichkeiten, welchen dieser Preis schon vorher verliehen wurde, veranlaßt mich, Ihnen von Herzen für ihre Anerkennung zu danken. Ich möchte nicht gegen die grundsätzlichen Höflichkeitsformeln verstoßen und den Namen der einen oder anderen hervorheben, die mir vorangegangen sind, denn ich sehe hier einen klaren Symbolismus.

Salvador de Madariaga repräsentierte im Jahre 1973 die Hoffnung auf Freiheit für mein Land. Der Preis verschuf damals einem bedeutenden Mann Gerechtigkeit, wir glaubten aber auch, in demselben den Ausdruck einer Anerkennung der spanischen Anhänger der Europabewegung zu sehen, die 1948 in Den Haag, 1962 in München oder zu anderen Zeitpunkten dabei waren und den geistigen Ansporn darstellten, den die Leute meiner Generation brauchten, um den Traum dieses illustren Humanisten zu verwirklichen.
Seine Majestät der König Juan Carlos I. verkörperte 1982 das Beispiel jenes Spaniens, welches die Freiheit wiedergewonnen hatte und ein demokratisches Zusammenleben verfolgte. Es handelte sich um die gerechte Anerkennung eines Mannes, der den politischen Übergang des spanischen Volkes gelenkt hatte und der beste Vertreter des neuen, jungen und dynamischen Spaniens war, das sich nach einer Integration in die europäische Familie sehnte.
So wie ich es verstehe, wollten Sie heute das europäische Spanien, das glückliche Zusammentreffen Spaniens mit seiner europäischen Umwelt auszeichnen. Ihre Großzügigkeit mir gegenüber kann keine andere Erklärung haben als den einfachen Umstand, daß mir - aufgrund der Zufälle der Geschichte - die Aufgabe oblag, an der Spitze der Regierung zu stehen, als Spanien dem europäischen Projekt beitrat.
Diese Anerkennung gehört in legitimer Weise einer ganzen Generation von Spaniern. Einer Generation ohne Ausnahmen, welche vor der Verantwortung stand, die Richtung der historischen Entwicklung Spaniens endgültig zu ändern. Einer Generation, der es gelungen ist, einen langen Zyklus auferlegter Singularität abzuschließen. Ich betrachte es als ein Privileg, relevante Stellungen in einem Prozeß eingenommen zu haben, der seine Kraft in unserem Wunsch fand, ein für allemal eine fortschrittliche, beständige, moderne, europäische Gesellschaft zu werden.
Als François Mitterrand 1991 Václav Havel vorstellte, führte er als seine Verdienste die Beschreibung des Kampfes gegen die Gefühle der Ausgeschlossenheit, der Nichtdazugehörigkeit an, die für einen Teil Europas galten, in dem die Uhr vor langer Zeit stehengeblieben und die Geschichte unterbrochen worden war.
Im Verlaufe mehrerer Jahrhunderte begleiteten derartige Gefühle eine Generation von Spaniern nach der anderen. Diese kämpften wiederholt um die Rückkehr zu einer Entwicklung, die im XVI. Jahrhundert gescheitert war; ein Umstand, der die Unterbrechung einer anhaltenden Periode der Integration und des religiösen und kulturellen Zusammenlebens bewirkte.
Vor über vier Jahrhunderten, in einem heftig nach Reformen strebenden Europa, richtete unser Land seinen Blick nur auf sich selbst, um sich ausschließlich einem orthodoxen Projekt zu widmen, das eine Mischung aus politischer Aktion und moralischer Vorgabe darstellte, wie Francisco de Ayala sagte. Die Rückgewinnung der Toleranz war stets das Ziel der nachfolgenden spanischen Reformisten, Erben der Gesinnung Erasmus'.
Die Absicht der berühmten Spanier bestand darin, Zugang zu den Produktionsarten der besser entwickelten Länder, zu den nützlichen Kenntnissen, zu den renovierenden politischen und sozialen Formen zu haben. Wie auch ihre europäischen Gesinnungsgenossen waren sie überzeugt von der rationalen Kapazität des Menschen, die Realität zu verstehen und den Fortschritt anzutreiben.
Im Verlaufe des XIX. Jahrhunderts waren die europäischen Gebiete wiederholt das Ziel unserer Emigranten. Oft war es ein Hin- und Rückweg, und zwar jeweils in Abhängigkeit davon, ob die diversen liberalen Versuche Erfolg hatten oder mißlangen.
Die Europäisierung Spaniens war die Synthese aller Regenerationsvorschläge. Man wollte neuen Gedankenströmungen den Weg öffnen, neue wissenschaftliche Kenntnisse einbeziehen, die soziale Struktur beleben und den oligarchischen Formen des politischen Systems ein Ende bereiten.
Als würde es sich um eine Verhexung handeln, der wir nicht entfliehen konnten, schloß die Belebungsphase mit einem ungeheuren kollektiven Mißerfolg, mit unserem Bürgerkrieg, der dramatischsten aller unserer Erfahrungen ab. Die Diktatur stellte die Kondensation, die Synthese der historischen Ausschließungen, den Ursprung unseres größten und schmerzhaftesten Exils dar.
Dieses Spanien, das allein die grundlegenden europäischen Kulturen integrierte und sich später nach außen hin abschloß, von den Innovationsströmungen zurückzog und oft in entgegengesetzter Richtung marschierte, war dennoch gleichzeitig in der Lage, dem gemeinsamen Nachlaß Europas und der Menschheit bedeutende Beiträge zu leisten.
Spanien ist ein Land, das Zeiten des Glanzes, aber auch Zeiten der Unsicherheit miterlebt hat, eine Nation starker Impulse und betrübender Hemmungen, ein Land, welches das Glück gehabt hat, das Interesse und die Neugierde seiner Nachbarn, die Leidenschaft der Romantiker und die Solidarität der Demokraten zu erwecken.
Ein Land großer Möglichkeiten, eingeschränkt durch die schwierige Lage seiner wirtschaftlichen Entwicklung, durch die Trennung seiner Gebietsstruktur, durch die unbefriedigende soziale Integration, durch die unzureichende moralische Toleranz. Ein Land, das durch die lange Unangemessenheit seines politischen Systems zurückgehalten wurde.
Diese Generation, der ich angehöre, nahm voller Begeisterung die verlockende Herausforderung an, die unregelmäßig beschriebenen Seiten unserer Geschichte zu beenden, um danach ein endgültiges Treffen mit der institutionellen Normalität herbeizuführen.
Eine Generation, deren Zugang zur Politik nicht in ruhiger, geregelter Weise über ein logisches Programm von Kompromissen und gesammelten Erfahrungen, sondern als Reaktion auf einen ethischen Imperativ angesichts des Freiheitsmangels erfolgte. Eine aufgrund der Realität, in der sie aufgewachsen war gewissermaßen verbitterte Generation, die jedoch der Illusion und Begeisterung, diese Realität zu ändern, den Vorrang gab.
Obgleich sie keine Gelegenheit gehabt hatte, ihre Absichten und Pläne mit der Realität zu kontrastieren, gelang es dieser Generation, sich nach und nach von den der Isolierung eigenen Auswachsungen und Rückständen zu lösen und aus den jüngsten Erfahrungen ihrer Umgebung zu lernen; aus Großzügigkeit verzichtete sie jetzt auf einige ihrer radikalsten Vorhaben.
Das Ziel, das wir am deutlichsten verfolgten, bestand darin, die Gelegenheit nicht wieder ungenutzt zu lassen. Jeder Schritt rückwärts bedeutete immer einen schmerzhaften Verlust und erforderte eine langwierige Rückgewinnung unserer Identitätsmerkmale. Es schien der Moment gekommen zu sein, in welchem die von Manuel Azana zum Ausdruck gebrachte Versöhnungsnachricht "Frieden, Nachsicht, Vergebung" gedeihen konnte.
Das endgültige Ergebnis bot eine gemeinsame Lösung für alle Fragen, die sich trennend zwischen die Spanier gestellt hatten. Es ratifizierte die Parlamentarische Monarchie, setzte - unter besonderer Beachtung derjenigen sozialer und wirtschaftlicher Art - den fortschrittlichsten der Kataloge der Rechte und Freiheiten unserer Umwelt fest und erkannte die Autonomie der Nationalitäten und Regionen an. Es definierte Spanien als einen sozialen, demokratischen Rechtsstaat, der als oberste Werte seiner Rechtsordnung die Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und den politischen Pluralismus verteidigte.
Mit der Anerkennung der neuen politischen Formulierung hatte diese Generation, von der ich spreche, in bestem Einvernehmen die institutionelle Frage gelöst. Es wurde zu jenem Zeitpunkt eine zweite Phase eingeleitet: wesentliche Zielsetzungen waren die endgültige Konsolidation der Demokratie, die Ingangsetzung des Autonomen Staates, die Überwindung der Wirtschaftskrise und die tatsächliche Einflechtung in das europäische Projekt und in das westliche Sicherheits- und Kooperationssystem.
Ich hatte die Gelegenheit und das Glück, während der längsten Zeit dieser entscheidenden Phase unserer jüngsten Vergangenheit an der Spitze der spanischen Regierung zu stehen. Eine gewisse politische Zurückhaltung hindert mich daran, Ihnen eine detaillierte Bilanz dieses Zeitraums darzulegen. Auf jeden Fall erlebt Spanien heute die ausgedehnteste Periode demokratischer Normalität seiner konstitutionellen Geschichte.
Seit 1986 gehören wir der Europäischen Gemeinschaft an. Seit diesem Jahr kommen wir auch eindeutig und solidarisch unseren Verpflichtungen im Sinne des Friedens und der Sicherheit der westlichen Welt nach. Im Verlaufe dieser Jahre konnte unsere Wirtschaft ein äußerst beachtliches Wachstum verzeichnen, womit sie sich dem Durchschnitt der Mitgliedsländer nähert. Die spanischen Bürger sind zum ersten Mal ausnahmslos Nutznießer der für den Wohlstand wesentlichen Leistungen wie Erziehung, Gesundheits- und Sozialwesen.
Unsere Gesellschaft kann heutzutage den restlichen europäischen Gesellschaften gleichgestellt werden, teilt deren Sorgen und Bemühungen und hat ähnliche Aussichten.
Es handelt sich um eine hauptsächlich städtische, säkularisierte Gesellschaft mit einer jungen demographischen Struktur, deren Geburtenzahl stark absinkt. Die Zahl der Beschäftigten gleicht im Durchschnitt der der anderen Länder ihrer Umgebung, wobei jedoch eine intensive Inkorporation der Frau festzustellen ist. Eine Gesellschaft, der die Aspekte der Arbeitslosigkeit, Drogen und Unsicherheit - wie auch jeder anderen Gesellschaft - großen Kummer bereiten.
Sie fühlt sich immer pluralistischer, entwickelter und dezentralisierter. Trotz ihrer beachtlichen Kreativität weicht sie schließlich weniger denn je vom normalen Typus ab.
Ich gebe zu, daß ich, was mein Land anbetrifft, sehr anspruchsvoll bin. Ich möchte, daß es sich unwiderruflich an ein europäisches Projekt der Stabilität und des Fortschritts gebunden fühlt, damit Spanien endgültig dazugehört, ein Land, das wie alle anderen seiner Umgebung ist.
Eine Nation, in der es nie wieder zu einer Isolierung, zu Abschirmversuchen kommen soll. Es gibt einige äußerst dramatische Symbole. Jean Monnet konnte seine Memoiren schreiben, ohne Spanien ein einziges Mal zu erwähnen.. Das war keine Ungerechtigkeit seinerseits, sondern eine grausame Realität, die wir kein zweites Mal erleben wollen.
Wir wollen keine weitere Abwesenheit. Wir nehmen jetzt aktiv an der Gestaltung der geteilten europäischen Zukunft teil. Und ich bin selbstverständlich bereit, fest an der progressiven Errichtung der Europäischen Union zu arbeiten. Heute mehr denn je, denn ich bin der Meinung, daß man gerade in Zeiten der Krise oder Unsicherheit Wagnisse eingehen und den politischen Mut haben muß, um das Schiff durch die Ungewißheit und Skepsis vieler hindurch bis zum sicheren Hafen zu steuern. Die Entscheidung des dänischen Volkes ist ein klares Stimulans auf diesem Weg.
In wenigen Jahren haben wir eine unerwartete Beschleunigung des historischen Rhythmus miterlebt. Vor den Toren des XXI. Jahrhunderts hat der Zusammenbruch des Kommunismus auf unserem Kontinent und in der ganzen Welt neuen Aussichten die Tore geöffnet. Dadurch konnten nicht akzeptierbare Wunden geheilt werden, aber es kamen auch wieder alte Streitigkeiten und uralte Teufel zum Vorschein.
Seit einigen Monaten stehen wir in Europa widersprüchliche Zeiten durch: das menschliche Drama des Konfliktes im ehemaligen Jugoslawien, die Schwierigkeiten des politischen Umschwungs in Rußland, die Probleme bei der Ratifikation des Abkommens über die Europäische Union und deren verwirrende Folgen im europäischen Wirtschafts- und Währungsbereich. Sie alle bewirken ein Gefühl der Unsicherheit und verleiten manche dazu, irrtümlicherweise den Blick nach innen zu richten.
Die letzten 45 Jahre des westlichen Europas waren ein Beispiel der demokratischen Toleranz unter absoluter Berücksichtigung der Vielartigkeit.
Das war dank des Integrationssystems möglich, das die Gemeinschaft brachte; im Verlauf der Geschichte Europas war es das einzige System, das als Modell des friedlichen Zusammenlebens und des Wohlergehens Erfolg gehabt hat.
Es ist offensichtlich, daß die Pariser und Römischen Verträge mit der Errichtung der Europäischen Gemeinschaften das europäische Zusammenleben der nach dem II. Weltkrieg entstandenen Gesellschaft ordnen wollten. Der Wunsch nach einer körperlichen und geistigen Rekonstruktion, nach einer Ordnung des Bewußtseins und der Wirtschaft begünstigte eine politische Verflechtung, die dazu berufen war, die Trägheit der Geschichte zu überwinden. So wurde es von der ganzen Welt verstanden.
Meines Erachtens sollte das Abkommen von Maastricht über die Europäische Union den Rahmen für die Organisation der Gesellschaft der kalten Nachkriegszeit bilden, um den Kontinent dann zu strukturieren, wenn es keine Blöcke, keine Bedrohungen mehr gibt und so mancher deshalb auch nicht mehr die Notwendigkeit einer Union empfindet.
Da wir die frühere, ungerechte Ordnung nicht vermissen und die Teilnahme aller Länder wünschen, möchte ich mich entschieden an die verantwortlichen europäischen Politiker, an die Vertreter der Wirtschaft und des Sozialwesens wenden. Ich rufe die Freiberufler, die Arbeiter, die Gesellschaft insgesamt und ganz speziell die Jugendlichen auf. Diese Jugendlichen, die mit dem Krieg des ehemaligen Jugoslawien Bilder und Handlungen gesehen haben, die sie bisher in Europa nur aus Filmen kannten oder von denen nur ihre Eltern und Großeltern gesprochen hatten.
Ihnen gelten meine Überlegungen, damit der Geist der Integration den der Rivalität besiegt. Dieser Grundsatz soll unsere Schritte in der derzeitigen Situation lenken, in der widersprüchliche, zum Teil gefährliche Anzeichen zum Gegenteil verleiten könnten.
Salvador de Madariaga setzte außerdem ein klares Ziel, dem in den heutigen Tagen eine ganz besondere Relevanz zukommt.
,,Dieser Kontinent ... war dazu berufen, in der Geschichte jahrhundertelang als Vorkämpfer aufzutreten. Ich bin davon überzeugt, daß er es auch weiterhin sein wird, sobald er sich Politiker verschafft, die den Anforderungen der Epoche und ihrer eigenen Gesinnung gerecht werden."
Unter den verschiedenen theoretischen Modellen ist die dynamische, progressive Integration das geeignetste, um unsere Zielsetzungen zu erreichen, denn sie ermöglicht es uns, die durch ihre eigenen Widersprüche bewirkten Impulse zu nutzen.
Das Abkommen über die Europäische Union stellt heutzutage dieses Modell dar.
In einer Welt, in der wir mehr denn je voneinander abhängig sind, brauchen wir kollektive Lösungen für die globalen Probleme wie es die Überbevölkerung, die massiven Migrationsbewegungen, die Verschärfung der Unterschiede zwischen Nord und Süd bzw. die großen technologischen Herausforderungen bzw. ihre diversen Optionen sind.
Vor diesem neuen Hintergrund ist es notwendig, daß diese Generation dem Projekt zum Fortschritt einen erneuten Impuls gibt:
Einen neuen Impuls, der es ermöglicht, die Anforderungen der Arbeitsorganisation zu integrieren, die Ungleichheit zu bekämpfen und zum Schutz der Umwelt Sparsamkeit und Strenge in der Nutzung von Mitteln aller Art einzuführen.
Einen neuen Impuls, der die sozialen Reformen vertieft, speziell diejenigen, welche - wie die Erziehung - einen gezielten Einfluß auf die politische Kohäsion, die wirtschaftliche Entwicklung und die Vermögensverteilung haben.
Einem neuen Impuls in der radikalen Entwicklung der Demokratie, in der die Gleichheit nicht der Gegenpol der Freiheit, sondern die Grundlage für deren Ausübung ist. Die zivile Gesellschaft stärken, die Machtausübung steuern, die individuelle, organisierte Beteiligung fördern und den Gehalt sowie die Bereiche der Demokratie ausdehnen.
Die Entziehung der Legitimation, die Ablehnung der Politik nährt sich in umfangreichem Maße aus dem Widerspruch zwischen den Werten, die wir Politiker fördern und zum größten Teil verteidigen, sowie aus gewissen Verhaltensweisen, welche dieselben im täglichen Leben in Abrede stellen. Mehr denn je steht es heute fest, daß die Antwort auf die Probleme der Demokratie nur eine stärkere Demokratie sein kann!
Angesichts der Skepsis bin ich außerdem der Ansicht, daß die Antwort auf die Probleme Europas nur ein stärkeres Europa sein kann.
Durch isolierte Handlungen der einzelnen Mitgliedsstaaten kann Europa nicht zur Lösung der bedeutenden Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, beitragen.
Europa braucht an erster Stelle Stabilität. Angesichts der immer latenten Gefahr desintegrierender nationalistischer Bewegungen und der Zersplitterung unseres Erdteils sichert uns die Europäische Union eine beständige Zukunft.
Ich beziehe mich auf Europa im weitgehendsten Sinne, mit allen Folgen, denn ich bin überzeugt, daß sich rund um diesen Kern der derzeitigen Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft die Organisationsstruktur des Kontinents bilden wird. Den offenen, von allen frei anerkannten Rahmen bildet dabei das Abkommen über die Europäische Union. Es muß klar festgehalten werden, daß alle demokratischen Länder berechtigt sind, am Projekt teilzunehmen. In gleicher Weise darf kein Land verhindern, daß andere - in unbestimmter Zahl - die praktische Verwirklichung des bedeutenden Projekts der Vereinigung übernehmen.
Meinem vorstehenden Aufruf möchte ich an dieser Stelle die Notwendigkeit hinzufügen, die Werte der Aufklärung wiederzugewinnen und gegen die aktuellen Bedrohungen zu verteidigen. Hiermit fordere ich zur Verteidigung der Vernunft und der zur Person gehörenden Werte auf.
Professor van Kleffens sagte: "Die Aufklärung war die Heimat aller Gesinnungen, welche nicht primitiv scheinen wollten."
Im vergangenen Jahr erklärte uns Jacques Delors auf dieser selben Tribüne: ,,Eine zusätzliche Bedingung für den Erfolg des Abkommens über die Europäische Union besteht darin, daß unsere Mitbürger das Gefühl und die Möglichkeit haben, Teil dieses kollektiven Abenteuers zu sein." Er verwies mit Recht darauf, daß es der Gemeinschaft ohne diese Voraussetzung an Kraft, Kohäsion und Legitimität fehlen würde, um sich den derzeitigen und zukünftigen Herausforderungen stellen zu können.
Daher die Bedeutung der Staatsbürgerschaft der Union und ihrer zukünftigen Entwicklung als etwas Unterschiedliches, das nichts mit unseren jeweiligen nationalen Identitäten zu tun hat und darüber hinausgeht. Die europäische Staatsbürgerschaft ist - zumindest habe ich das von Anfang an geglaubt - der Leitfaden, der es uns ermöglicht, dieses Werk zu konsolidieren, indem wir alle individuell unsere neue europäische Verantwortung übernehmen.
Die Errichtung Europas bedeutete für die verantwortlichen Politiker eine schwere Last, denn obgleich wir die Macht haben, über die bedeutenden europäischen Optionen zu entscheiden, sind wir auch verpflichtet, unseren internen nationalen Realitäten, unseren unmittelbaren Problemen gegenüberzutreten. Unsere Mitbürger wenden sich logischerweise immer an die politische Instanz, von der sie eine Lösung ihrer Probleme erwarten. Aus diesem Grund spricht man heute mit einer deutlich verfehlten Perspektive von einer Rückkehr zur Überlegenheit der nationalen Aspekte anstelle der gemeinschaftlichen.
In Wirklichkeit ist die Gemeinschaft noch nicht ausreichend genug gegliedert, um die Fragen, an denen es unseren Mitbürgern am meisten liegt, wie zum Beispiel die internationale Unsicherheit, die Arbeitslosigkeit oder die mangelnde finanzielle Stabilität, zufriedenstellend beantworten zu können.
Die unmittelbare Aufgabe wird daher die sein, uns geeignete Instrumente zu verschaffen, um den gemeinsamen Herausforderungen und Problemen, z. B. der Konflikt in Bosnien, die Wirtschaftslage oder die hohe Zahl der Arbeitslosen, entgegentreten zu können. Wir brauchen Mittel, angesichts welcher der Bürger klar verstehen kann, daß es keinen Widerspruch zwischen dem Alltäglichen, den mittel- und langfristigen Angelegenheiten, dem nationalen und dem europäischen Interesse, dem tatsächlichen Leben und der politischen Aktivität gibt.
Zu diesem Zweck müssen wir erreichen, daß die Errichtung Europas ausnahmslos das Werk aller ist. Es besteht eine geteilte Verantwortung der Nationen, der Regionen, der Städte und der Bürger selbst. Damit alle Regierungen und Verwaltungen auf verschiedenen Ebenen solidarisch an einem gemeinsamen Unternehmen mitwirken. Damit die großen politischen Familien, die dem Projekt ehemals den Anstoß gaben, jetzt einem Pakt zugunsten der Europäischen Union beitreten und die Durchführung g desselben unabhängig von politischen Parteikämpfen erfolgt.
Ein bedeutender Pakt, damit der gesamte Prozeß im Dienste der Menschen und der Bürger steht, welche das Maß aller Dinge, das Ende jeder politischen und sozialen Organisation darstellen.
Ein bedeutender Pakt, um den Fortschritt voranzutreiben und jede Rückkehr zu verhindern: um zu vermeiden, daß der ausschließende Nationalismus, fremdenfeindliche Verhaltensweisen oder rassenfeindliche Diskrimninierungen wiederkehren.
Ein bedeutender Pakt der internen und externen Solidarität, der eine Vertiefung der Entwicklungsdifferenzen innerhalb Europas verhindert und gleichzeitig dafür sorgt, daß Europa nicht zu einer reichen, von einem Ozean der Unterentwicklung umgebenen Insel wird.
In diesem Sinne wollte ich alle diese Jahre arbeiten, um es Spanien zu ermöglichen, seine Zukunft Tag für Tag zusammen mit den anderen europäischen Ländern zu verdienen. Es bewegt mich der Ehrgeiz, Spanien zu einem festen Bestandteil der Konstruktion Europa zu machen. Ich möchte, daß das Niveau der gegenseitigen Abhängigkeit und des Fortschritts eine so große Bedeutung erlangt, daß wir nie wieder interne Kämpfe, eine der Not entfliehende Emigration oder das Exil als Folge der Unduldsamkeit bzw. des Fanatismus miterleben müssen.
Es ist mein Wunsch, weiterhin für ein entwickeltes Spanien in einem vereinigten Europa zu arbeiten. Möge die Entwicklung des einen die Entwicklung des anderen mit sich bringen. Die unmittelbare Aufgabe besteht darin, der Herausforderung des Jahres 1997 gerecht zu werden, damit Spanien zu den Ländern gehört, welche die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die politische Union bilden.
Ich möchte an dieser Stelle einige Worte ausleihen, die Ernesto Renan im Jahre 1872 an der Sorbonne aussprach:
"Der Mensch ist kein Sklave, weder seiner Rasse, Sprache oder Religion, noch der Flußläufe oder Richtung der Bergketten. Eine umfangreiche Gruppe von Menschen gesunder Gesinnung und warmen Herzens bilden ein geistiges Bewußtsein namens Nation. Solange dieses geistige Bewußtsein namens Nation, solange dieses geistige Bewußtsein unter Beweis stellt, daß es in der Lage ist, die vom Verzicht zugunsten der Gemeinschaft geforderten Opfer zu erbringen, gilt es als legitim und ist seine Existenz gerechtfertigt."
Ich glaube, daß wir diese Worte auch auf Europa anwenden können, denn Europa ist diese Gesamtheit, an der wir uns beteiligen, ohne auf das Beste von uns zu verzichten. Ich sehe keine widersprüchlichen Grundsätze darin, Patriot und Europäer zu sein. Ganz im Gegenteil. Meiner Meinung nach ergänzen sie sich in Reichtum und Tiefe.