Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Kurt Malangré

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Kurt Malangré

Festliche Versammlung!

Im vorigen Jahr stand mit Konstantin Karamanlis nicht nur eine Persönlichkeit europäischen Formates im Mittelpunkt dieser Feier, sondern mit Griechenland auch die Wiege der Demokratie und die Heimat der Lehre Platons von der Unantastbarkeit des Rechtes und des Sittlichen.

Diese Grundgüter Europäischen Geistes und freiheitlicher Staatsordnung nahmen über Rom ihren Weg nach Westen in das lateinische Reich, verschmolzen dort nach einem Wort Leopold von Rankes mit dem Geistes- und Gedankengut des Christentums zu den Grundlagen Europas, die von der Stelle unserer heutigen Versammlung aus nach den Wirren der Völkerwanderung in der karolingischen Renaissance den jungen Völkern Galliens und Germaniens erschlossen wurden. Sie, diese über Rom uns zugekommenen Güter griechischen und christlichen Denkens, überwanden den Absolutismus und zu unseren Lebzeiten auch den Nationalstaat. Er liegt hinter uns. Was er geleistet hat, bleibt bestehen und wirkt weiter. Was er an Unheil angerichtet hat, auch, und eben dieses Unheil hat ihn widerlegt, genauso wie seine derzeitige Unfähigkeit, die drängenden gegenwärtigen Probleme zu lösen und unserem Kontinent im eigenen Innern und in seinen Pflichten gegenüber der Welt Zukunft zu geben.

Am 7. Mai 1964 sprach Walter Hallstein bei der Verleihung des Karlspreises an den Italienischen Staatspräsidenten Antonio Segni hier an diesem Ort von der die Enge des Nationalismus überwindenden Universalität als einem die Einheit des Kontinentes stiftenden Zug europäischen Wesens, einer Universalität lateinischer Kultur. Es mag als eine besondere und symbolhafte Geste der Historie angesehen werden, daß jetzt in dem Zeitpunkt, an dem zum ersten Male in neun Ländern unseres Kontinentes 180 Millionen Bürger in einem einheitlichen freien Willensentschluß eine gemeinsame Vertretung ihrer Völker wählen, daß an dieser Schwelle, über die nun die Demokratie aus der Nationalität tradiert, hinüberschreitet in die Dimension des Kontinentes, daß an diesem Angelpunkt herausgehoben nach Amt und Persönlichkeit ein Italiener steht, den ich hier in unserer Mitte in aller Namen und an erster Stelle mit großer Freude begrüßen darf, den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Emilio Colombo. Neben ihm heißen wir die anwesenden Karlspreisträger früherer Jahre willkommen:
Den Karlspreisträger 1961, den damaligen Präsidenten der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Herrn Professor Dr. Walter Hallstein,
den Karlspreisträger 1967, den Generalsekretär der NATO, Herrn Dr. Joseph Luns,
den Karlspreisträger 1969, den damaligen Präsidenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Herrn Minister Jean Rey,
den Karlspreisträger 1972, den jetzigen Präsidenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, The Right Hon. Roy Jenkins,
den Karlspreisträger 1976, den ehemaligen Premierminister Belgiens und jetzigen Präsidenten der Europäischen Volkspartei, Herrn Leo Tindemans.
Ich begrüße die Herren Botschafter
der Niederlande,
Portugals,
Italiens,
Belgiens,
Irlands,
und die Herren Gesandten Griechenlands und Frankreichs,
und heiße willkommen den Präsidenten des Europäischen Rechnungshofes, Herrn Murphy,
die Vizepräsidenten des Europäischen Parlamentes, die Herren Adams, Deschamps, Lücker, Maintz und Zagari,
der Europäischen Investitionsbank, Herrn Dr. Steffe,
das Mitglied der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Herrn Dr. Brunner,
den Präsidenten des Belgischen Senats, Herrn Vandekerckhove,
den Vizepräsidenten des Luxemburgischen Parlamentes, Herrn Schaffner
sowie den Oberbefehlshaber der Vereinigten Streitkräfte Europa-Mitte, Herrn Generals Schulze.
Unser Gruß gilt den anwesenden Mitgliedern des Europäischen Parlamentes und des Deutschen Bundestages.

Für die Bundesregierung begrüße ich den Herrn Vizekanzler und Außenminister Genscher,
für die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, Herrn Innenminister Dr. Hirsch,
die anwesenden Abgeordneten des Landtages von Nordrhein-Westfalen,
den Präsidenten des Landesrechnungshofes, Herrn. Dr. Heidecke
sowie den Herrn Botschafter der Bundesrepublik als deren ständigen Vertreter bei der Europäischen Gemeinschaft.
Wir freuen uns über die Anwesenheit des Diözesanbischofs von Aachen, Herrn Professor Hemmerle,
der zahlreich erschienenen Mitglieder des Consularischen Corps,
der Präsidenten des Luxemburgischen Rates der Europäischen Bewegung, Herrn Dr. Calteux und der Europa-Union, Herrn Theo M. Loch,
den Herren Generalsekretäre der Internationalen Europäischen Bewegung
und des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung, der Herren van Schendel und Eickhorn, des Vorsitzenden der Landschaftsversammlung Rheinland, Herrn Bürgermeister Kürten und des Regierungspräsidenten in Köln, Herrn Dr. Antwerpes.

Verehrte Anwesende!
In diesen Tagen und Wochen geht es um den demokratischen Impuls in Europa. Nach einem Wort Emilio Colombos erleben wir mit der Möglichkeit der ersten Direktwahlen zu einem Europäischen Parlament ein Rendezvous mit der Geschichte, das zu verpassen wir nicht berechtigt sind und das jedem Bürger die Gelegenheit gibt, sein Europa selbst in die Hand zu nehmen, über das Geschehene und Nichtgeschehene zu urteilen, sich der erzielten Fortschritte und der verpaßten Gelegenheiten bewußt zu werden.

Zu viel Zeit der Stagnation ist verstrichen. Die Probleme in Europa sind so angewachsen, daß ihre Lösung die Kraft der isolierten Bemühungen der einzelnen Länder längst übersteigt. Die Arbeitslosigkeit von über 6 Millionen Menschen, die Inflation von durchschnittlich 10 % in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft, die ebenso drängende wie ungelöste Frage nach den Energiequellen, die nicht durch Schlagbäume einzugrenzende, internationale Gefährdung unserer Umwelt oder das zur Zeit ungeordnete und in eben dieser Konzeptionslosigkeit unbefriedigende Verhältnis der Europäischen Industrienationen zu den Drittländern mögen einige zentrale Beispiele gefahrvoller Hilflosigkeit der Einzelnen und ungenutzter Chancen zusammengefaßter Anstrengungen aller sein. Zahlreiche, das tägliche Leben der Bürger behindernde Ungereimtheiten kommen hinzu, angefangen von den die garantierte Freizügigkeit verhindernden Unterscheiden in den beruflichen Ausbildungsgängen und Berufsabschlüssen bis hin zu unverständlichen Erschwernissen und Behinderungen im grenzüberschreitenden täglichen Pendlerverkehr.

Der von Alcide de Gasperi und Antonio Segni, den unvergessenen Karlspreisträgern von 1952 und 1964 geforderte ideelle Impuls zur Vereinigung Europas wurde ersetzt durch 30000 Verordnungen fleißiger Eurobürokraten.
Konrad Adenauer und Robert Schumans vertrauensvoller großer Wurf blieb auf der Strecke des Interessengerangels im Ministerrat. Wen wundert es, daß die Bürger Europas skeptisch wurden. Zu lange ließ man sie draußen oder drängte sie aus dem Politischen ins Folkloristische ab. 30 Jahre europäischer Bemühungen ohne echte parlamentarische Kontrolle und Einflußnahme hinterlassen ihre Spuren, verursachen Informationsmängel, Resignation, Desinteresse.

Aber gerade das ist nun fehl am Platze. Jetzt sind wir gefragt und gefordert. Jetzt können wir ein Stück unserer Gegenwart und unserer Zukunft in die Hand nehmen. Jetzt, in wenigen Tagen, werden Weichen gestellt, ist eine Chance wahrzunehmen. Lassen wir die mahnenden Worte, die Theodor Heuss zum 31.12.51 formulierte, auch jetzt für uns gelten: "Die Demokratie, die wir nicht bloß als Schicksal hinzunehmen haben, sondern in ihrem volkhaften Geschichtsauftrag bejahen sollen, die Demokratie als Institution wie als Lebensgesinnung stirbt an dem "Ohne mich", sie lebt aus dem "Mit mir". Und dieses "Mit mir" buchstabiert weiter: "Mit Dir". Ja, "Mit Dir" und "Mit mir", nur so wächst Europa, nur so erlangt das künftige Parlament seine Rechte. Nur "Mit Dir" und "Mit mir" kann es gegen alle Widerstände von links- und rechts-außen seine Rechte erlangen und Initiativen entfalten.

Und genau hier nun steht Emilio Colombo vor uns, als Mensch beispielhaft, als Politiker integer, als Europäer unermüdlich. Einer der großen Mahner und Wegbereiter des neuen Parlaments, dessen Ruf: "Es gibt keine Alternative zu Europa, wir werden es gemeinsam schaffen", nun ein Appell an uns alle ist, der gesprochen wird aus umfassender politischer Erfahrung, drängender Sorge, aber auch aus dem Wissen um die großen Möglichkeiten und Kräfte unseres Kontinentes.

Emilio Colombo wurde am 11.4.1920 in Potenza geboren, studierte Jurisprudenz und promovierte zum Doktor der Rechtswissenschaften. Früh engagierte er sich in der Katholischen Bewegung und bekleidete das Amt des Vizepräsidenten der Katholischen Jugend Italiens. Seine politische Laufbahn begann er bereits 1946, als er im Wahlkreis seines Geburtsortes als Abgeordneter in die Konstituierende Versammlung seines Landes gewählt wurde. Von dann an wurde er in den folgenden Jahrzehnten immer wieder in seinem Wahlkreis mit großen Mehrheiten in das Italienische Parlament gewählt, u. a. mit dem beten Stimmergebnis ganz Italiens. Ministerpräsident de Gasperi holte ihn als Staatssekretär in seine Regierung. Antonio Segni ernannte ihm zum Minister. In der Folgezeit bekleidete er unter verschiedenen Premiers die Ministerämter für Landwirtschaft, Außenhandel, Industrie, Haushalt, Beziehungen zur UNO und das Schatzamt.
1970 wird Dr. Emilio Colombo zum Ministerpräsidenten seines Landes gewählt. Am 7.10.1976 trat er in das Europäische Parlament ein, zu dessen Präsidenten er fünf Monate später gewählt wurde. Dieses Amt bekleidet er bis heute.

Von der Position dieses Amtes aus drängte er unermüdlich zur Direktwahl des neuen Parlaments und damit gleichzeitig zur Ablösung des von ihm selbst geleiteten Delegiertenparlamentes. So in seiner Rede auf dem Kapitol in Rom am 28.10.1977, wo er ausführte: "Wir sind alle unzufrieden mit dem Europa, in dem wir gegenwärtig leben, mit dem Zustand unserer Gemeinschaft, den Unsicherheiten und Hindernissen, die ihren Fortschritt langsam, manchmal sogar stagnierend machen."
Am 13.11.1978 in Bonn:
"Wir haben eine gemeinsame Aufgabe, dem Wähler Europa darzustellen, so wie es ist und vor allem, so, wie es sein kann, als der einzig mögliche Weg und eine realisierbare Hoffnung. Wir sind überzeugt, daß im Europäischen Parlament eine einzigartige Macht der Kontrolle und der politischen Impulsion entstehen wird, um aus Europa einen Kontinent nach der Dimension seines Volkes und seiner Zeit zu schaffen."

Und am 23.2.1979 in Brüssel:
"Die europäischen Wahlen werden das historische Ereignis des Jahres 1979 sein. Wir wissen, daß sie dem politischen und institutionellen Zusammenschluß der europäischen Völker und der Europäischen Union einen vitalen Impuls verleihen werden."
Präsident Colombo war der ideale und selbstlose Wegbereiter der in 17 Tagen zu wählenden Europäischen Volksvertretung. Er schöpfte nicht nur die rechtlichen Möglichkeiten des bisherigen Parlamentes aus, sondern förderte maßgeblich durch faktische Handhabung nach angelsächsischer Rechtstradition eine Ausdehnung der Kompetenzen zum law in the making, zum werdenden Gewohnheitsrecht.

So dürfen wir in Emilio Colombo nicht nur eine herausragende politische Persönlichkeit Italiens erblicken, die ihren Auftrag nur aus dem eigenen Gewissen und der stets erneuerten demokratischsten Legitimation, der Wahl seiner Mitbürger, suchte, sondern wir sehen in ihm den Mann, der in bester römischer Tradition seine historische, wegbereitende Verpflichtung mit aller Konsequenz erfüllt, dem Politischen schlechthin Glaubwürdigkeit verleiht und der demokratischen, der freien Willensentscheidung der europäischen Bürgerschaft raumgebenden Verantwortung aller die Zukunft unseres Kontinentes öffnet.

Daher hat das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachenbeschlossen, Ihnen, Herr Präsident Dr. Emilio Colombo, den Karlspreis 1979 zuzuerkennen.

Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachenam 24. Mai 1979
an Emilio Colombo