Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Marcel Philipp

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Marcel Philipp

Verehrte Festgäste,

erstmals in der Geschichte des Karlspreises haben wir zu Beginn der Festveranstaltung zwei Nationalhymnen gehört.

Eine Hymne an die Nation ist auf den ersten Blick kein Zeichen für die Einheit Europas. Und sicher gelingt Europa nur, wenn über das Nationale hinaus vor allem das Gemeinsame Platz hat. Aber auch wenn die Überwindung von Grenzen unser Leitmotiv ist, so ist doch die Identität der Nation ein wichtiges Element, ja geradezu eine Voraussetzung für eine stabile Zusammenarbeit untereinander in Europa.

In tiefem Respekt stehen wir an der Seite unserer polnischen Nachbarn. Nach dem tragischen Unglück, dem Flugzeugabsturz von Smolensk, ist die polnische Seele einmal mehr schwer getroffen. Wir möchten Ihnen, unseren polnischen Freunden, auch an dieser Stelle unser tiefes Mitempfinden aussprechen. Die Freundschaft zwischen Deutschland und Polen, die zahlreichen und intensiven Verbindungen der Menschen beider Staaten untereinander sind in schweren Zeiten von besonderer Bedeutung. So wollen wir den Beginn dieser Karlspreisverleihung mit den beiden Nationalhymnen verstanden wissen.

In dieser besonderen Situation, in der sich Polen so jäh und unvorhersehbar wiederfindet, sind wir zutiefst dankbar, dass eine große polnische Delegation zu unserem heutigen europäischen Festakt nach Aachen gereist ist.

So darf ich den Träger des diesjährigen Internationalen Karlspreises zu Aachen sehr herzlich in Aachen willkommen heißen:

Szanowny Panie Premierze serdecznie witamy w Akwisgranie (Herzlich willkommen in Aachen, Herr Premierminister Tusk. - Erst polnisch, dann deutsch)

Ebenso herzlich begrüße ich die Laudatorin des heutigen Tages, die Karlspreisträgerin des Jahres 2008, die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Frau Dr. Angela Merkel.

Mit ihr begrüße ich die Karlspreisträger früherer Jahre:

  • den Karlspreisträger 1976, den vormaligen belgischen Ministerpräsidenten Leo Tindemans

  • den Karlspreisträger 1979, den früheren italienischen Ministerpräsidenten Emilio Colombo

  • den Karlspreisträger 1997, den vormaligen Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Prof. Dr. Roman Herzog.

Eine besondere Freude bereitet uns mit seiner Anwesenheit der Präsident des Europäischen Parlamentes, Herr Prof. Dr. Jerzy Buzek sowie der ehemalige Präsident des Europäischen Parlamentes, Herr Prof. Hans-Gert Pöttering.

Herzlich begrüße ich den Präsidenten des Europäischen Rates, Herrn Hermann von Rompuy sowie das Mitglied der Europäischen Kommission, zuständig für Finanzplanung und Haushalt, Herrn Janusz Lewandowski und den Senatspräsidenten der Niederlande, Herrn Dr. René van der Linden.

Ich begrüße sehr gern die diplomatischen Vertreter der Länder Belgien, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Polen, Portugal, Rumänien sowie den deutschen Botschafter in Polen und den ständigen Vertreter der Republik Polen bei der Europäischen Union. Willkommen heißen wir auch die Generalkonsule von Griechenland, Indien, Frankreich, Kroatien, Polen und der Vereinigten Staaten von Amerika sowie weitere Mitglieder des konsularischen Corps.

Wir freuen uns besonders über die Anwesenheit des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Prof. Dr. Norbert Lammert sowie der früheren Präsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Prof. Dr. Rita Süßmuth.

Mit ebenso großer Freude begrüße ich den Außenminister von Mazedonien, Herrn Antonio Milososki, den Minister für Religiöse Angelegenheiten des Sultanates Oman, Sheikh Abdullah Al-Salmi, den Ministerpräsidenten der deutschsprachigen Gemeinschaft des Königreichs Belgien Herrn Karl-Heinz Lambertz sowie die ehemalige Premierministerin der Ukraine, Frau Julia Timoschenko.

Herzlich grüßen möchte ich den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Dr. Jürgen Rüttgers sowie die Landesminister Christa Thoben, Prof. Dr. Andreas Pinkwart und Armin Laschet.

Wir begrüßen den Kommandeur des Allied Joint Force Command der NATO, Herrn General Egon Ramms sowie unseren Regierungspräsidenten, Herrn Hans-Peter Lindlar.

Darüber hinaus begrüße ich mit Freude Herrn Bischof Dr. Heinrich Mussinghoff sowie die Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften.

Und in der polnischen Delegation begrüßen wir den vormaligen Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski und nicht weniger als 5 ehemalige Ministerpräsidenten des Landes, sowie die Gattin unseres Preisträgers, darüber hinaus den Europa-Staatssekretär Herrn Minister Bartoszewski sowie den Regisseur und Oskar-Preisträger Andrzej Wajda.

Ihnen und vielen weiteren Persönlichkeiten, die uns durch ihre Anwesenheit ehren, aber auch den Zuhörern und Zuschauern an Radio und Fernsehen gilt der herzliche Gruß der Stadt Aachen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie alle versammeln sich hier in Aachen, um ein Stück teil zu haben am Bau des Europäischen Hauses. Ein steingewordenes Symbol für Europa finden Sie hier bereits vor. Der Aachener Dom, Deutschlands erstes Weltkulturerbe, geht auf Karl den Großen zurück. Er hat vor mehr als 1200 Jahren von hier aus ein Reich regiert, das schon europäische Dimensionen hatte.

Die Art und Weise, wie damals ein so großer Zusammenschluss erfolgte, ist eigentlich kein historisches Vorbild für unser heutiges Europa. Denn zu Karls Zeiten wurde die Gemeinschaft auch mit dem Schwert herbeigeführt. Aber Karl der Große hat dennoch große Verdienste erworben, weil er die Bedeutung der Bildung, der Kultur und der Sprachen erkannte. Er hat damit den Grundstein gelegt für einen verantwortungsvolleren Umgang mit unserem Leben und mit unserer Welt, in der wir leben. Und heute führt die Erkenntnis, auch nach vielen weiteren Kriegen, dazu, dass wir nun seit vielen Jahrzehnten mit dem Prozess der Einheit Europas Teil eines nie dagewesenen Friedensprojektes sein dürfen.

Wir alle sind aufgerufen, dieses Projekt fortzusetzen, es zu unserer eigenen Sache zu machen. Gerade auch jene jungen Menschen, die nicht erleben mussten, wie Krieg oder die beschwerliche erste Nachkriegszeit aussahen, die nicht einmal die Teilung Deutschlands, die Teilung Europas in Ost und West miterlebt haben, weil sie erst 20 Jahre oder jünger sind, gerade diese jungen Menschen haben die Aufgabe, die Bedeutung der Einheit Europas zu erkennen.

Die Jugend Europas nimmt diese Aufgabe an und setzt sie u.a. in Projekte um, die beim Wettbewerb um den Europäischen Jugendkarlspreis mitmachen. Und unter uns sind heute auch die Träger des diesjährigen Jugendkarlspreises. Drei Projekte wurden dabei besonders geehrt, Projekte aus Bulgarien, aus Irland und aus Deutschland.

Internationale Netzwerke werden geknüpft, europäische Politik diskutiert, Kultur wird grenzüberschreitend gelebt. Jugendliche motivieren sich und andere, die Möglichkeiten der Demokratie in Europa zu nutzen. Die Jugend versteht, worauf es ankommt. Aber sie braucht auch Vorbilder. Es braucht Menschen, die voran gehen auf dem Weg zur europäischen Einigung.

In Polen gelingt es vor allem Premierminister Tusk, seine Überzeugung für einen europäischen Weg auch zur Überzeugung vieler werden zu lassen. Er gibt Hoffnung und spricht damit auch die Jüngeren an. Er versteht es, in dem manchmal komplexen Gefüge aus Interessen, Befindlichkeiten und Erfahrungen den richtigen Ton zutreffen.

Ist Polen westlichster Teil Osteuropas oder der östlichste Mitteleuropas? Sind die Polen, ihre reiche Kultur, ihre Sprache, ihr Glaube westlich geprägt oder östlich? Dass solche Fragen immer wieder diskutiert werden, ohne dass es eindeutige Antworten gibt, zeigt, welche Rolle unserem Nachbarvolk zukommt. Von einem Land der Widersprüche zu reden, wie es gelegentlich geschieht, greift nicht. Es ist der Reichtum Polens, von zwei großen Kulturräumen beeinflusst zu sein. Ein Reichtum, auf den die Polen stolz sein dürfen, aber auch ein Reichtum, der zur Aufgabe wird, der Hoffnung birgt. Denn Polen ist das Bindeglied zwischen der Europäischen Union im Westen und den Völkern und Staaten Osteuropas. Und es ist gleichzeitig Botschafter Osteuropas in der Europäischen Union.

“Wir haben die Europäische Union verdient, und die Europäische Union verdient Polen”, hat Leszek Miller, der damalige Premierminister Polens, am 20. Dezember 2002 im Warschauer Parlament gesagt. Und er hat Recht! Genauso, wie sich die Aussage des französischen Historikers und glühenden Verfechteres der europäischen Einigung Jacques le Goff bewahrheitet hat, der schon 1997 versprach: “Der baldige Eintritt von Polen, Tschechien und Ungarn wird Europa ein anderes Gesicht geben. Es wird vielfältiger, pluralistischer und offener sein.”

Doch bei allem Reichtum ist die Rolle an der Schwelle zweier Kulturkreise auch eine schwierige. Denn es gilt, beiden Seiten gerecht zu werden, beide Traditionen zu sehen und zu pflegen, weder das östliche noch das westliche Erbe zu vernachlässigen - und dabei gleichzeitig die Eigenständigkeit, das Typische zu wahren.

Als Regierungschef Polens sind Sie es, Herr Premierminister, dem diese Aufgabe an vorderster Stelle zufällt. Und es zeichnet Sie aus, dass Sie versuchen, allen ein guter Nachbar und Partner zu sein. Sie tun das als überzeugter Pole und als überzeugter Europäer. Ganz persönlich stehen Sie - trotz mancher Kritiker - für ein Polen in der Europäischen Union und für die ausgestreckte Hand und den wachen Blick der Union über ihre Ostgrenze hinaus.

Diese Fähigkeit, den Weg zu weisen, wird gerade dann wichtig, wenn wir uns in einer Krise befinden. Und Europa ist in einer Krise. Die Lage der Staatsfinanzen in Griechenland lässt viele daran zweifeln, ob Europa dieses Problem stemmen kann.

Die Europäer, so scheint es, sind erschöpft. Die Menschen in Europa sind verunsichert, sie fragen sich, wie es denn weiter geht mit dem Gemeinschaftsprojekt und ob es überhaupt weitergeht. Manche haben Zukunftsängste, weil inmitten einer Periode weltweiter Wirtschafts- und Finanzkrisen die gemeinsame Währung, der Euro, durch die Griechenland-Krise erschüttert wird. Die Sorge um seine Stabilität nimmt dramatisch zu, die Frage nach dem Zusammenhalt der Währungsunion wird drängender denn je gestellt. Schon werden Stimmen laut nach Wiedereinführung nationaler Währungen, nach einer Renationalisierung auch anderer wirtschaftlicher und politischer Steuerungsinstrumente.

Hier liegen die größten Gefahren für das Zusammenwirken und Zusammenwachsen in Europa. Wer eigenes Geld drucken will, der schafft Abgrenzungen, die zu Grenzen werden können.

Wenn das Vertrauen in die gemeinsame Währung schmilzt, wird die Begeisterung für Europa schwinden. Deshalb ist es gerade jetzt besonders wichtig, notwendige Korrekturen schnell vorzunehmen, die europäischen Regelwerke so zu modifizieren, dass die krisenauslösenden Faktoren für die Zukunft ausgeschlossen sind und im gesamten Euro-Raum eine solide, nachhaltige Finanzpolitik zu betreiben. Darin steckt die große Chance der Krise.

Aber das ist leichter gesagt als getan. Die Sofortmaßnahmen dieser Tage sind noch nicht die Lösungen des eigentlichen Problems. Alle Euroländer sind gefordert, auf allen staatlichen Ebenen und dauerhaft Schuldenbremsen zu installieren. Die Mechanismen zur Durchsetzung dieser Nachhaltigkeit waren bisher nicht ausreichend, aber sie müssen es werden.

Diese Chance darf Europa nicht vertun. Wir brauchen das beherzte Handeln der politischen Entscheidungsträger und nicht Kleinmut. Europa braucht dringend Ermutigung, damit sich die bei vielen spürbare Desillusionierung nicht verfestigt.

Europa ist kein Selbstläufer, es gibt auch keinen Automatismus der Integration. Ohne überzeugte Europäer, die sich für das Einigungsprojekt begeistern und von Europa begeisterte Politiker, die es verstehen, die Völker auf diesem Weg mitzunehmen, wird es nicht gehen. In der globalisierten Welt versagt die Gestaltungskraft des Nationalstaates, wir brauchen die Gemeinschaft, dieses kühne Projekt ohne historischen Vorläufer, als das großartige Modell, mit dem wir unsere Zukunft gewinnen.

Dabei wird Europa immer wieder Impulse von unten benötigen. Denn die Gemeinschaft wird in letzter Instanz nicht vom Euro, auch nicht von einem komplizierten Institutionengefüge zusammengehalten. Europa lebt und ist nur möglich, wenn die Europäer selbst, die Bürgerinnen und Bürger der Union, immer wieder ihre Zustimmung zum Projekt geben.

Der Karlspreis als Auszeichnung freier und unabhängiger Bürger, der weder vom Rat der Stadt noch von einer staatlichen oder anderen offiziellen Organisation vergeben wird, ist ein Beispiel für diese Anstöße von Europas Basis her, die die Vereinigung der Völker vital erhalten. Sie, verehrter Herr Premierminister Tusk, dürfen deshalb den Karlspreis auch als eine Würdigung Ihres Wirkens durch europabegeisterte Bürgerinnen und Bürger ansehen. Zugleich dokumentieren sich darin Sympathie und politische wie geistig-kulturelle Nähe zum polnischen Volk.

Herr Premierminister, Sie sind ein Förderer der vielfältigen Begegnungen der europäischen Bevölkerungen, sie wirken als Brückenbauer für gutnachbarschaftliche Beziehungen. Sie sind polnischer Patriot und überzeugter Europäer; sie teilen als Politiker die Werte, die die Demokraten in Europa miteinander verbinden. Die Auszeichnung mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen ist ein Dank für Ihr engagiertes Eintreten für Aussöhnung und Frieden, für Demokratie und Zusammenarbeit, für den Aufbau eines Europas der Bürger.

Die Laudatio wird nun unsere Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, sprechen, wofür ich mich an dieser Stelle bedanken möchte.

Und gerichtet an unseren diesjährigen Karlspreisträger darf ich sagen:

Herzlichen Glückwunsch, verehrter Herr Premierminister Tusk.