Rede von Willy Brandt, Bundesminister des Auswärtigen und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland

Rede von Willy Brandt, Bundesminister des Auswärtigen und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland

Herr Präsident, Exzellenzen, Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren,

zum 17. Mal verleiht die Stadt Aachen den Internationalen Karlspreis; seit 1950 hat sie alljährlich im feierlichen Rahmen dieses historischen Saales Männer ausgezeichnet, die uns kraft ihrer Person und ihres Amtes der Verwirklichung eines einigen Europa einen Schritt oder auch mehrere Schritte näher gebracht haben. Sie alle kennen die Namen, die aus der Nachkriegsgeschichte dieses Kontinents nicht mehr wegzudenken sind.

Es ist das besondere Verdienst der Stadt Aachen und ihrer hervorragendsten Bürger, auf diese Weise schon vor nahezu 20 Jahren – zu einer Zeit also, da Europa darniederlag und seine Einigung als ein kühner Wunschtraum erscheinen mochte – ein Symbol für den Europagedanken geschaffen zu haben. Sie haben dabei von Anfang an Wert darauf gelegt, mit der Würdigung vollbrachter Leistung zugleich eine Ermunterung der Preisträger und aller derer, die die gleichen Ziele verfolgten, zu neuem Handeln und zu neuer Verantwortung zu verbinden. Das Bewußtsein, die öffentliche Meinung hinter sich zu haben, hat manchem der Pioniere gewiß dabei geholfen, große Schwierigkeiten zu überwinden.

Von diesen Gedanken – der Anerkennung und der Ermunterung – hat sich die Stadt Aachen offenbar auch bei der Auswahl des Preisträgers zu 1969 leiten lassen. Sie hat sich dabei etwas besonderes einfallen lassen. Denn es ist sicher nicht ohne Bedeutung, daß gerade in diesen Tagen die Wahl auf ein Kollegium gefallen ist, auf die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ein durch die Verträge von 1961 und 1957 geschaffenes Organ. Ihr Präsident, Herr Jean Rey, weilt heute zusammen mit seinen Kollegen unter uns und ich möchte ihm sagen, wie sehr wir uns über ihre Anwesenheit freuen. Ich sage das zugleich im Namen der Bundesregierung. Auch der gegenwärtige Vorsitzende des Ministerrats der EWG, der luxemburgische Außenminister Thorn – der leider seine Teilnahme absagen mußte – hat mich vor einigen Tagen in Luxemburg gebeten, Ihnen, Herr Präsident, und Ihren Mitarbeitern seine besonderen Grüße im Namen des Ministerrats zu übermitteln.

Anerkennung hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften wahrhaftig verdient. Die vierzehn Männer, die seit fast zwei Jahren der vereinigten Exekutive der drei Gemeinschaften vorstehen, haben Bedeutendes geleistet. Sie brauchen den Vergleich mit den Leistungen ihrer Vorgänger, unter denen sich ja bereits Träger des Karlspreises befinden, nicht zu scheuen. Die Ermunterung, die ihnen zugleich zuteil wird, werden sie und alle, die sich für das Schicksal der Gemeinschaften verantwortlich fühlen, dankbar empfinden. Denn die Öffentlichkeit in Europa, alle die im politischen Leben unseres Kontinents stehen, sollten gerade jetzt nachdrücklich daran erinnert werden, daß den Europäischen Gemeinschaften nach wie vor eine zentrale Bedeutung im Rahmen des Einigungswerkes zukommt, und daß die Gemeinschaften nur dann dieser Aufgabe gerecht werden können, wenn die Kommission die ihr von den Verträgen zugedachte Rolle zu spielen in der Lage ist. Die Regierung der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften haben die Leistung der Kommission erst vor wenigen Tagen auf der Sitzung in Luxemburg erneut gewürdigt, als sie die Wiederernennung ihres Präsidenten und der vier Vizepräsidenten beschlossen.

Als Bundesminister des Auswärtigen begrüße ich diese schöne und nützliche Geste der Stadt Aachen. Denn die Bundesregierung sieht – ich darf dies unterstreichen – in den Gemeinschaften den Eckstein des zu errichtenden Gebäudes Europa. Ein noch immer nicht genügend solider Eckstein wird mancher denken. Dennoch sollten wir nicht übersehen, wieviel schon erreicht ist: Die Zollunion, die – wenn auch gewiß nicht unproblematische – Schaffung des Agrarmarktes, bedeutende Fortschritte zur Verwirklichung der Freiheiten im Gemeinsamen Markt, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die frei Niederlassung und den freien Dienstleistungsverkehr. Damit nenne ich nur einige der wichtigsten Gebiete. Denn daneben gibt es eine Fülle anderer Maßnahmen, die – oft fast unmerklich – dazu beitragen, die Bedingungen eines großen Binnenmarktes zu schaffen.

Das Ergebnis ist allerdings nicht auf allen Gebieten gleich erfreulich: Vieles steht noch aus, was die Verträge den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft als Ziel gesetzt haben und was zur Vollendung der Wirtschaftsunion unentbehrlich ist. Ich denke da z. b. an die Energiepolitik, an die Wissenschafts- und Forschungspolitik, sowie die notwendige Harmonisierung im Bereich der Wirtschafts-, Währungs- und Konjunkturpolitik. Ich denke auch an die Beseitigung des unrationellen Nebeneinanders der drei Gemeinschaften, d. h. die Frage der Verschmelzung auf der Grundlage der bisherigen Verträge und des bisher Erreichten.

Auch hier, in der Grenz- und Verbindungsstadt Aachen, will ich betonen, wovon ich Anfang der Woche vor dem Ministerrat der EWG in Luxemburg und vor der Versammlung des Europarats in Straßburg gesprochen habe: Bis zum Wegfall aller überflüssigen Grenzkontrollen bleibt noch einiges zu tun, und wir sollten uns vornehmen, es rasch zu tun. Auch an der Bereitschaft zu einseitigen Vorleistungen sollte es hierbei nicht fehlen.

Auf vielen Gebeiten stellen sich in naher Zukunft große Aufgaben für die Kommission, Aufgaben, deren Bewältigung ein solches Maß von Überzeugung, Fachkenntnis und Geduld verlangen wird, daß die Verleihung des Karlspreises für die Mitglieder der Kommission eine willkommene Ermutigung darstellt. Die Weiterentwicklung der Gemeinschaften liegt weitgehend in ihren Händen. Denn die Gemeinschaftsverträge haben der Kommission eine einzigartige Stellung eingeräumt. Sie ist unabhängig von den Regierungen der Mitgliedstaaten; ihre Verantwortung ist unteilbar. Ohne Anstoß von ihrer Seite können sich die Gemeinschaften nicht weiterentwickeln. So ist es von Anfang an gewesen und so wird es auch bleiben.

Als vor 19 Jahren die Idee der europäischen Integration den Sprung von der Utopie in die Wirklichkeit machte, stand von vornherein die Schaffung eines von den Regierungen der Mitgliedstaaten unabhängigen Organs im Vordergrund. Ohne eine solche Institution in ihrer rechtlich abgesicherten Stellung wäre die Verschmelzung von sechs nationalen Volkswirtschaften eine Utopie geblieben. Glücklicherweise sind uns seit dem Inkrafttreten des Pariser Vertrages vor 17 Jahren immer wieder Männer von ausgeprägt europäischer Gesinnung begegnet, so daß wir uns bald daran gewöhnt haben, in der Kommission nicht nur den Wächter über das Vertragswerk, sondern zugleich den Motor der gemeinschaftlichen Entwicklung zu sehen.

Die Kommission nimmt unter den Institutionen der Gemeinschaften einen besonderen Platz ein, der jedoch erst im Zusammenwirken mit den anderen Organen der Gemeinschaften zur Geltung kommt. Ich denke an die rechtwahrende und rechtschöpfende Tätigkeit des Europäischen Gerichtshofs; ich denke an das Europäische Parlament, das über einen großen Schatz an Erfahrungen und nicht zu unterschätzende Einwirkungsmöglichkeiten verfügt. Wenn diesem Parlament auch heute noch echte legislative Befugnisse vorenthalten sind, so wissen doch gerade die heutigen Preisträger, daß sie dem Europäischen Parlament verantwortlich sind. Die Verträge haben ihm immerhin das Recht eingeräumt, die Kommission mittels eines Mißtrauensvotums ihres Amtes zu entheben – ein Recht, über das die Regierungen der Mitgliedstaaten nicht verfügen.

Ohne falsche Bescheidenheit möchte ich auch auf den wichtigsten Partner der Kommission, den Rat der Europäischen Gemeinschaften, hinweisen. Da ich seit zweieinhalb Jahren selber Mitglied dieses Organs bin, möchte ich mich wegen Befangenheit nicht zu den Leistungen dieses Organs äußern. Wir wissen, auf welch ingeniöse Weise die Väter der Gemeinschaftsverträge die beiden Organe Rat und Kommission miteinander verbunden haben. Sie sind dazu bestimmt, gemeinsam – jeder im Rahmen seiner eigenen Verantwortung – schöpferisch tätig zu sein; keiner kann ohne den anderen handeln. Ich verhehle Ihnen nicht, daß mir dabei die Stellung der Kommission oft weitaus reizvoller erscheint. Denn ihr gehört auf Grund ihres Vorschlagsrechts in der Regel die Initiative. Ihr Vorrecht ist es, dem Rat, den Mitgliedstaaten und der europäischen Öffentlichkeit das Interesse des gemeinsamen Ganzen vor Augen zu führen. Die Aufgabe des Rats ist es, den politischen Willen der sechs Mitgliedstaaten zu einer gemeinschaftlichen Haltung zu verdichten und den Interessenausgleich zwischen den Belangen der Gemeinschaft und denen der Mitgliedstaaten stets neu zu erarbeiten.

Die Auszeichnung mit dem Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen gilt Ihnen, Herr Präsident, und den anderen Mitgliedern der Kommission persönlich; sicherlich ist sie aber auch gedacht als Ausdruck des Dankes an die große Zahl ihrer Beamten und Mitarbeiter, von denen wir wissen, daß sie mit Sachkenntnis und persönlichem Engagement im Interesse der Gemeinschaften tätig sind. Auch sie werden die Auszeichnung begreifen als einen Ansporn, an der Vollendung des gemeinsamen Werkes der Europäischen Einigung mit allen Kräften weiterzuarbeiten.

Sie, Herr Präsident, und Ihre Mitarbeiter haben diese Ehrung besonderer Art in besonderem Masse verdient – und ich gehe davon aus, daß die Kommission den ihr heute eingeräumten Ehrenplatz behaupten wird. Nehmen sie, Herr Präsident, hierzu meine herzlichen Glückwünsche entgegen!

Foto Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaft

Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaft