Laudatio von Staatspräsident Dr. Dr. Carlo Azeglio Ciampi

Laudatio von Staatspräsident Dr. Dr. Carlo Azeglio Ciampi

Herr Oberbürgermeister
Herr Ministerpräsident
Mitglieder des Karlspreisausschusses
Majestät
Königliche Hoheit
Bürger von Aachen

Ich hatte das Los, in verschiedenen institutionellen Ämtern die lange Geschichte zu erleben, die zur Entstehung des Euro geführt hat: von den wechselhaften Ereignissen der nationalen europäischen Währungen, die immer wieder von Währungsschwankungen erschüttert wurden, die von Ungleichgewichten in den Realwirtschaften oder von Inflationsschüben ausgelöst wurden, die jeweils von Finanzbewegungen unterschiedlicher Natur verschärft wurden; über die Versuche, dies über die Zusammenarbeit und Abstimmung der Zentralbanken abzuwenden; über die ersten Projekte, engere institutionelle und operative Bindungen ins Leben zu rufen; über die Erkenntnis der Unzulänglichkeit dieser Versuche; bis hin zum wachsenden Bewußtsein, dass eine radikale institutionelle Lösung von Nöten war, die mit der Schaffung der Einheitswährung und dem Europäischen System der Zentralbanken Form angenommen hat.

Ich habe diese Ereignisse mit starkem beruflichem und politischem Einsatz gelebt und noch mehr mit dem Herzen, das von der Erinnerung an die besonders dramatischen Ereignisse beherrscht war, die meine Generation im ersten Teil ihres Lebens gezeichnet haben.
Eine Generation, die gleich nach dem Ersten Weltkrieg geboren war; eine Generation, die in der Blüte ihrer Jugend vom Zweiten Weltkrieg überrollt wurde; eine Generation, die auf der eigenen Haut die Unsinnigkeit empfunden hat, mit den Waffen in der Hand junge Männer anderen jungen Männern gegenüberzustellen; das Erbe einer tausendjährigen gemeinsamen Kultur zu zerstören; die materiellen und geistigen Ressourcen zu zerstören, die mit der Verherrlichung des Lebens und seiner Werte Quelle des Wohlstands für alle Völker Europas und der ganzen Welt sein konnten.
In diesem Geiste habe ich mich auf den heutigen Anlass vorbereitet.
Sie werden verstehen, wie erfreut ich bin, in dieser Stadt zu sein, Symbol des römischen Erbes, die sie mit ihrer Berufung zum kulturellen Scharnier und als Sitz des Internationalen Karlspreises Zeugnis ablegt von den Idealen, welche der europäischen Integration zugrundeliegen.
Karl der Große wurde als rex pater Europae definiert. Er legte den Grundstein für die Wiedergeburt, aus der das moderne Europa hervorgegangen ist.

Der diesjährige Internationale Karlspreis erkennt im Euro den Beweis der Fähigkeit der europäischen Völker, in gemeinsamen Institutionen ihre Werte und Ideale umzusetzen, als Ausdruck einer einzigen Kultur, die aus dem Beitrag aller europäischen Nationen entstanden ist.
In diesem historischen Moment erscheint uns der europäische Einigungsprozess in seiner ganzen Größe. Die Aussicht auf ein geteiltes Europa wäre düster.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten Totalitarismen und Nationalismen die europäische Kultur fast ausgelöscht.
Indem wir uns gegen diese Schrecken gewandt haben und gegen die Ideologien, die ihnen zugrunde lagen, haben wir in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mit dem Aufbau eines vereinten Europa im Zeichen von Freiheit und Demokratie begonnen.
Die Union ist die höchste Garantie für die Demokratie in Europa.
Der Anbruch des XXI. Jahrhunderts, das von der Verbreitung demokratischer Regierungen in der Welt gekennzeichnet ist, sowie in unserem Kontinent von der progressiven institutionellen Konsolidierung und der Erweiterung der Europäischen Union, wird von vielen noch mit Unsicherheit, manchmal auch mit Sorge und Ernüchterung erlebt. Das Vorherrschen quantitativer Paradigmen gegenüber dem Sichdurchsetzen der Ideale und die Verschärfung der Ungewißheiten für die Zukunft, lösen Unsicherheit aus.
Es bleiben anachronistische, nationalistische Sehnsüchte bestehen.
Durch den Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen in der Welt werden Hass und Konflikte zwischen den Völkern auf dramatische Weise gefährlich. Eine scheinbar unaufhaltsame, noch unzureichend beherrschte Globalisierung verschärft die sozialen und umweltbedingten Ungleichgewichte des Planeten.
Wir müssen rechtzeitig Bedrohungen vorweggreifen, die unterschiedlichen Ursprungs sein können. Wir müssen tätig werden, damit Europa endlich und auch im Interesse der Weltgemeinschaft eine vollständige internationale Gestaltungsfähigkeit gewinnt.
Seit Beginn des europäischen Abenteuers durch die sechs Unterzeichnerstaaten der Römischen Verträge wurde das Leitprinzip der Beschränkung der nationalen Souveränität angewandt - zugunsten von Institutionen, die aufgerufen waren, geteilte Machtbefugnisse auszuüben - von Seiten einer Avantgarde von Staaten, die offen und nicht exklusiv und immer zu neuen Fortschritten bereit war.
Dieses Prinzip bleibt grundlegend für das Voranschreiten des Einigungsprozesses.
Heute erscheint es unabdingbar, Institutionen Form zu verleihen, die den neuen Dimensionen der Europäischen Union entsprechen, die es erlauben, unsere Verantwortung gegenüber den europäischen Bürgern zu übernehmen, für den Erhalt des Friedens unter den Völkern und den wirtschaftlichen und zivilen Fortschritt aller.
Die Union, Ausdruck der europäischen Seele und Kultur, die weit davon entfernt ist, die nationalen Identitäten und Kulturen auszulöschen, garantiert ihr Überleben und die Entwicklung innerhalb des Weltgefüges. In einem schwachen und geteilten Europa, könnte kein Nationalstaat, sei er nun groß oder klein, seinen Bürgern Wohlstand, Sicherheit und Freiheit garantieren. Keiner könnte allein sein wertvolles kulturelles, ziviles und religiöses Erbe erblühen lassen, das fester Bestandteil der europäischen Identität ist.
Dies ist die Logik der Teilung der Souveränität und der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Souveränität. Dies ist das Prinzip, an dem sich der Einigungsprozess Europas heute wie gestern inspiriert.
Ein solches Europa kann weiteren Zufluss von Einwanderern aufnehmen - im Respekt vor den Kulturen der Herkunftsländer, aber in der Beachtung der herrschenden Ordnung der Aufnahmeländer, die notwendig ist, um Rissen und Spannungen vorzubeugen, sowie im Geiste der einenden Elemente der christlichen und humanistischen Wurzeln der europäischen Kultur.

In der kohärenten Bahn, die von den Römischen Verträgen 1957 bis zu denen von Maastricht 1992 zur Schaffung des Euro geführt hat, ist ein Kurs festgelegt und eine Arbeitsmethode ausgearbeitet worden, die auch noch für die Zukunft gelten.
Die Einführung des Euro und die Einrichtung der Europäischen Zentralbank waren ein notwendiger Ankunftspunkt im Schaffungsprozess der Währungsunion. Die zuvor unterzeichneten Abkommen, um die Stabilität der Wechselkurse zwischen den Mitgliedsstaaten der Union zu garantieren, hatten sich als unzureichend erwiesen.
Würde es möglich sein, eine gemeinsame Währung ins Leben zu rufen? Für viele war es eine undurchführbare Utopie. Ich hatte gemeinsam mit weiteren elf Gouverneuren von Zentralbanken und drei Experten das Glück, die Arbeiten der Gruppe unter Vorsitz von Jacques Delors mitzuerleben. Der Europäische Rat von Hannover hatte ihr im Juni 1988 die Aufgabe übertragen, die konkreten Etappen auf die Währungsunion zu untersuchen und vorzuschlagen.
Wir hatten anfangs Zweifel, ob es möglich sein würde, übereinstimmend ein Projekt einer gemeinsamen europäischen Währung zu definieren. Wir schlossen unsere Arbeiten nach zehn Monaten ab. Ich erinnere mich an die Schlußsitzung der Gruppe Delors in Basel, im nüchternen Sitz der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Im Bewußtsein der noch zu überwindenden Schwierigkeiten, waren wir übereingekommen, zusammen ein verlängertes Wochenende zu verbringen. Nach drei Tagen lebhafter Debatten wurde ein abschließender Text festgelegt. Wir verabschiedeten ihn einstimmig. Ein Applaus und ein Umtrunk, ungewöhnlich für unseren sonst so sachlichen Arbeitsstil, schlossen diese Sitzung ab.
Ich möchte an ein weiteres Treffen erinnern, die des Europäischen Rates von Brüssel am 2. Mai 1998. Sie wurde vom turnusmäßigen Präsidenten, dem britischen Premierminister Tony Blair, geleitet. „Der heutige Tag ist ein historischer Tag für Europa“ - mit diesen Worten eröffnete er die Versammlung. Diese Feststellung klang noch feierlicher, weil sie vom Premierminister eines Staates ausgesprochen wurde, der beschlossen hatte, vorerst nicht am Euro teilzunehmen, der aber die Gültigkeit und Logik des Euro teilte.
Mit der Einrichtung der Europäischen Zentralbank wurde ein wahrhaft föderatives Organ geschaffen. Ein großer Schritt nach vorn konnte so gemacht werden; ein großes Beispiel für die gemeinsame Handhabung der nationalen Souveränität wurde gegeben. Dies, so denke ich, ist die Grundlage für die Verleihung des Internationalen Karlspreises an den Euro.
Es liegt in der Logik des Aufbausprozesses des vereinten Europa, dass jeder Fortschritt weitere fordert: entweder man schreitet voran, oder man gefährdet das Erreichte. Und das, was man im wirtschaftlichen und politischen Bereich geschaffen hat, erscheint jedes Mal zu wichtig, um in Gefahr gebracht zu werden: so wichtig, dass es den Regierungen und den Völkern den Mut gibt, noch weitere Fortschritte auf eine immer stärkere Einigung zu zu machen, bis zum Überschreiten einer Schwelle, die ein Bündnis von Staaten von einer wahren Union trennt.

In diesem Sinn ist die Einführung des Euro nicht nur ein Zielpunkt, sondern auch ein Ausgangspunkt.
Seit Beginn der Studien und Debatten, die zur Gründung des Euro geführt haben, war klar, dass für das gute Funktionieren des neuen Währungssystems eine starke Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten notwendig sein würde. Zu diesem Zweck wurde ein erster Komplex von Zielen festgelegt, zu dessen Einhaltung sich alle Staaten verpflichtet haben, auch wenn sie in der Definition der notwendigen Mittel zum Erreichen dieser Ziele autonom blieben: Ich beziehe mich auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt, der im Dezember 1996 vom Europäischen Rat in Dublin verabschiedet wurde.

Jetzt ist eine noch verbindlichere gemeinsame Definition der Wirtschaftspolitik der einzelnen Staaten notwendig, mit einem besseren Einsatz der bestehenden Institutionen und dem Einsatz neuer operativer Verfahrensweisen. Dies wird auch die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa stärken.

Weitere wichtige Fortschritte im föderalistischen Sinne sind von der Europäischen Union erreicht worden: im Bereich des Wettbewerbs, im Handel. Sie haben klare Vorteile für die europäischen Bürger mit sich gebracht. Über allem wacht der der Europäische Gerichtshof, der echte juristische Motor der europäischen Integration.

In einer möglichst nahen Zukunft muss ohne weitere Verzögerungen jetzt die einheitliche Führung der Außen- und Verteidigungspolitik verstärkt werden; innerhalb eines neuen Vertrages muss ein einheitlicher Raum der Freiheit, der Sicherheit und der Justiz konsolidiert und erweitert werden.
Diejenigen, die an diesen neuen Fortschritten zweifeln, sollten nicht vergessen, dass die bereits erzielten Fortschritte jedes Mal ebenso utopisch erschienen waren.


Wie schon beim Spaak-Ausschuss vor den Römischen Verträgen und den Arbeiten der Gruppe Delors vor den Maastrichter Verträgen, ist auch diesmal ein Konvent, wie es ihn in der Repräsentativität in der Zusammensetzung und im Umfang des Mandats bisher nicht gegeben hat, unter Vorsitz von Valery Giscard d’Estaing bereits am Werk. Seine Schlußfolgerungen werden die Linien für einen neuen Vertrag aufzeigen, der dann von einer eigens einberufenen Regierungskonferenz definiert und der Zustimmung der Regierungen und der Parlamente unterbreitet werden wird.
Der Konvent nährt sich von der großen Kraft der politischen Ideale Europas, von ihrer Kohärenz. Er hat eine präzise Aufgabe: ein neues Projekt zu definieren, das sich gegen die schrillen Klänge der Euroskepsis durchsetzt.
Ein stärkeres, einfacheres und klareres Europa – und darin das durch organisch geordnete Institutionen und einen umfassenderen Rückgriff auf die qualifizierte Mehrheit gesicherte Gleichgewicht – wird die Interessen aller Staaten, ob groß oder klein, garantieren, weitaus mehr als durch Auseinandersetzungen in Verhandlungen zwischen Staaten. Auseinandersetzungen in Verhandlungen korrodieren langfristig Europa und die Zustimmung der Bürger, derer es bedarf. Die Zugehörigkeit zur Europäischen Union definiert schon jetzt die Züge einer europäischen Staatsangehörigkeit, die die europäischen Bürger im Erreichen gemeinsamer Ziele innerhalb von Werten und gemeinsamen Regeln verbindet.
Die Definition des neuen Vertrages – ob man sie nun Verfassung oder Grundakte nennt – muss möglichst bis 2003 und in jedem Fall vor den Europawahlen im Frühjar 2004 abgeschlossen werden und wird in der erweiterten Union die gemeinsame zivile und soziale Identität Europas stärken und so diese gemeinsame Zugehörigkeit noch konsolidieren.

Wir sehen aus diesem Prozess eine Föderation von Nationalstaaten hervorgehen, die eine originäre und dynamische Synthese zwischen einer Union von Staaten und einem Bundesstaat darstellt, die ein organisches institutionelles System definiert, das in der Lage ist, die gemeinsamen Interessen weitaus mehr zu schützen als dies in ihrer Unzulänglichkeit zwischenstaatliche Mechanismen tun könnten.
Das Zusammenlegen grundlegender Elemente der Souveränität der Staaten ist notwendig, weil jedes einzelne Land nunmehr den Herausforderungen, denen es sich stellen muss, nicht mehr gewachsen ist.
Wie es auch für die Einheitswährung im Europa der Fünfzehn war, kann die Teilung eines einheitlichen institutionellen, organischen und effizienten Systems in einem erweiterten Europa noch mehr ein Antrieb in einem begrenzteren und integrierteren Bereich von Mitgliedsstaaten der Union sein, die für die nachfolgende Teilnahme aller offen ist.

In der Welt wächst das Bewußtsein der Notwendigkeit eines vereinten Europa.
Für uns Europäer alle wird das Bedürfnis, als einheitliches Subjekt auf die Krisen außerhalb der Union zu reagieren, Tag um Tag dringlicher.
Das Ungleichgewicht zwischen der politischen Dimension und der wirtschaftlichen Dimension der Europäischen Union ist angesichts der andauernden Instabilität des Balkans und der dramatischen Krise im Nahen Osten deutlich geworden und ist es noch.

Das traditionelle, essentielle Bündnis mit den Vereinigten Staaten ist eine notwendige und entscheidende Garantie für die Sicherheit aller. Europa und die Vereinigten Staaten stellen ein gemeinsames Erbe der Zivilisation und eine historische Gemeinsamkeit dar, die in der gegenseitigen Solidarität und gemeinsamen Verantwortung zum Ausdruck kommt.

Aber um diese Garantie noch stärker zu machen, ist es notwendig, dass die Europäische Union eine Dimension und einen politischen Einfluss erhält, der ihrem wirtschaftlichen Gewicht und ihrem Erbe an zivilisatorischen Werten entspricht.

Nur europäische Völker, die vom Willen beseelt sind, auch eine politische Union zu schaffen, können ihre Beweggründe und Ideale in der Welt zur Geltung bringen. Viele Europäer sind desorientiert, nicht weil sie nicht an die Europäische Union glauben, sondern weil sie keine ausreichende Klarheit im Kurs sehen, den man einschlagen will.
Sie wollen Sicherheit und eine kohärentes und klares Projekt.

Die Fortführung des Werkes der Gründungsväter, die geduldige und hartnäckige Ausarbeitung des institutionellen Systems, die vor nunmehr über fünfzig Jahren eingeleitet wurden, die Schaffung einer Union, die in ihren grundlegenden Stützpfeilern vervollständigt ist, werden die europäische Zivilisation und den Frieden wahren.

Es ist die Stunde gekommen, den neuen Generationen die Fackel der Schaffung Europas zu übergeben.
An diese Jugend richte ich voller Zuversicht meinen Appell:
- Bringt neuen ideellen Schwung in den Aufbau unseres Europas ein; konkretes Handeln und operative Effizienz in seine Institutionen; innovativen und fruchtbaren Unternehmungsgeist in seine Wirtschaft!
- Richtet Eure vordringliche Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse einer Gesellschaft im Wandel; benutzt Euren Drang nach Grosszügigkeit dazu, die Ungleichgewichte zu korrigieren, die nicht hinnehmbare Ungerechtigkeiten und lähmende Unsicherheiten in der Welt verursachen;
- gebt eine volle, verantwortungsvolle Antwort auf das, was Eurer Gewissen von Euch verlangt!

Die Zukunft Europas liegt in Euren Händen.