Rede von Jean Großherzog von Luxemburg

Rede von Jean Großherzog von Luxemburg

Herr Bundespräsident,
Herr Oberbürgermeister,
Herr Bundesminister,
Exzellenzen,
Meine verehrten Damen und Herren!

Zum ersten Mal, seit er gestiftet wurde, wird der Karlspreis heute nicht einer Persönlichkeit, sondern einem ganzen Volke verliehen, - dem Luxemburger Volke. Damit soll die europäische Gesinnung der Luxemburger anerkannt und geehrt werden.

Ich danke dem Laudator, Herrn Ehrenbundespräsident Dr. Karl Carstens, daß er in seiner hervorragenden Laudatio diese europäische Gesinnung der Luxemburger so klar herausgearbeitet und in den Zusammenhang der Geschichte Luxemburgs seit Karl dem Großen hineingestellt hat. Ich danke desgleichen dem Kuratorium des Karlspreises für die Ehre, die es dem Luxemburger Volke zuteil werden läßt und nehme die hohe Auszeichnung, die der Karlspreis darstellt, im Namen meines Volkes mit Freude, Genugtuung und - ich gestehe es gerne ein - nicht ohne Rührung entgegen.

Die Verleihung des Karlspreises an das Luxemburger Volk würdigt wohl, wie ich schon sagte, die europäischen Verdienste Luxemburgs. In meinen Augen stellt sie zugleich aber auch eine Anerkennung der europäischen Bemühungen und der Sehnsucht nach einem geeinten Europa aller Völker Europas dar. Denn ein geeintes Europa kann nur zustande kommen, wenn es vom Willen der Völker getragen wird. Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, daß die großen Persönlichkeiten überflüssig seine. Im Gegenteil. Die großen Staatsmänner, von denen ja mehrere bereits durch den Karlspreis geehrt wurden, sind das unentbehrliche Werkzeug der europäischen Einigung.

Eine besondere Freude bereitet es uns Luxemburgern, die hohe Auszeichnung des Karlspreises gerade in dieser Stadt entgegenzunehmen. Luxemburg und Aachen sind sich nicht nur dadurch verbunden, daß sie einst zum Reiche Karls des Großen gehörten. Auch in der jüngsten Geschichte gibt es einige Bindungen. Generationen von Luxemburgischen Ingenieuren sind an der Technischen Hochschule in Aachen ausgebildet worden. Seit Jahrzehnten arbeitet die Luxemburgische Eisenindustrie mit Kohlen aus dem Aachener Revier. Man kann, ohne zu übertreiben, behaupten, daß zwischen Luxemburg und dem Aachener Gebiet starke wirtschaftliche Beziehungen bestehen.

Es erfüllt mich mit Stolz, das Luxemburger Volk in seiner Gesamtheit inmitten einer imposanten Reihe von Karlspreisträgern, meistens Staatsmännern, zu sehen, die sich im europäischen Aufbauwerk einen Namen gemacht haben.

Es gehört zur Tradition der Verleihung des Karlspreises, in diesem ehrwürdigen, geschichtsträchtigen Krönungssaal auf das Reich Karls des Großen hinzuweisen. Der Laudator hat dieses in einer so hervorragenden und geschichtskundigen Weise getan, daß ich mich damit begnügen will, dem aufschlußreichen Bild, das er entworfen hat, nur einige zusätzliche, Luxemburg betreffende Lichter aufzusetzen, um mich etwas eingehender der Zukunft zuzuwenden.

Drei Hauptmerkmale kennzeichnen, meiner Meinung nach, die Geschichte Luxemburgs seit der Karolingischen Zeit. Luxemburg war von Anfang an zum Grenzland bestimmt und ist es bis heute geblieben. Der Teilungsvertrag von Meerssen aus dem Jahre 870, wo sich Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle Lothars Mittelreich teilten, zeigt aber auch, daß von Anfang an, das Gebiet, aus dem einmal die Grafschaft Luxemburg hervorgehen sollte, in das Spannungsfeld zwischen Ost und West hineingezogen wurde. Der Trennungsstrich von Meerssen verlief mitten durch das zukünftige Luxemburger Territorium entlang einer Linie, die durch die kleinen Flüsse Clerf, Wiltz, Sauer und Alzette gebildet wurde. Das Luxemburger Land hat im Laufe seiner Geschichte schwer an dieser Lage im Spannungsfeld zwischen Deutschland und Frankreich gelitten. Die Geschichte des heutigen Luxemburgs, das heißt die Geschichte Luxemburgs seit 1815 stellt eine, durch diese Lage bedingte ununterbrochene Kette außenpolitischer Krisen dar. Erst in der europäischen Gemeinschaft findet es Sicherheit.

Zur Zeit seiner größten Ausdehnung war das Luxemburger Land viermal größer als das heutige Großherzogtum. Es zerfiel in einen wallonischen Teil und einen luxemburgischen Teil. Dreimal mußte es im Laufe der Zeiten eine Teilung über sich ergehen lassen. Daß es in der heutigen Form überlebt hat, erscheint fast wie ein Wunder.

Aus der Not hat das Land eine Tugend gemacht. Immer wieder hat es besonders im 20. Jahrhundert versucht, das Positive dieser Lage, da heißt, die wirtschaftliche und geistige Öffnung nach allen Seiten hin auszubauen. Am Schnittpunkt der germanischen und romanischen Kultur gelegen, hat Luxemburg aus seiner bewegten Vergangenheit eine ihm eigene Sprachenlage gerettet, in der seit Februar 1984 das Luxemburgische, das Französische und das Deutsche gleichberechtigt nebeneinander funktionieren. Diese Sprachensituation ist als eine der wichtigsten kulturellen Charakteristiken Luxemburgs anzusehen. Durch sie grenzt sich Luxemburg von seinen Nachbarländern ab.

Luxemburg hat im 19. und 20. Jahrhundert immer versucht, zwischen Deutschland und Frankreich eine Vermittlerrolle zu spielen, soweit das in seinen Kräften stand. So hatte schon 25 Jahre vor Jean Monnet und Robert Schuman der luxemburgische Großindustrielle Emil Mayrisch, der übrigens hier in Aachen an der Technischen Hochschule studiert hat, über den Weg des 1925 gegründeten europäischen Stahlkartells versucht, Frankreich und Deutschland einander näher zu bringen.

Eine harte Prüfung für Luxemburg war der Zweite Weltkrieg. Schon der Erste Weltkrieg war ein Schock für das Luxemburger Volk gewesen. Der Zweite Weltkrieg wird für die Luxemburger zu einem wahren Kreuzweg werden. Die tiefe Ursache für den Nazi-Terror in Luxemburg und für dessen schreckliche Folgen, ist Luxemburgs lothringisches Kulturerbe, seine Doppelkultur gewesen. An sie klammerten sich die Luxemburger als Herzstück ihrer nationalen und kulturellen Identität. In Luxemburg flossen viel Blut und Tränen, aber de Widerstand des Luxemburger Volkes gegen die nazistische Tyrannei hat das Ansehen meines Volkes in der ganzen Welt gestärkt. Die vielen, viel zu vielen Opfer waren nicht umsonst. Sie fielen für die Unabhängigkeit Luxemburgs. Sie fielen aber auch für die Werte, auf denen das Abendland gründet: Das Recht des Einzelnen auf seine Freiheit, seine personale Würde und Integrität, das Recht der freien Meinungsäußerung, der Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen und der Völker.

Heute, meine Damen und Herren, sind unsere Völker vereint durch eine gewaltige, zukunftsträchtige Aufgabe. Wir haben zusammen die Werte unserer gemeinsamen Kultur und unseres sich immer genauer abzeichnenden europäischen Einigungswerkes gegen andere Zerstörungskräfte zu verteidigen und unser Einigungswerk auszubauen. Erlauben Sie mir Ihnen dazu einige Gedanken zu unterbreiten.

Suchen wir in der Vergangenheit nach einer Vorformung eines geeinten Europas, so drängt sich das Reich Karls des Großen geradezu auf. Hier ist, selbstverständlich innerhalb der geschichtlichen Gegenheiten der Zeit, der Traum von einem Europa als einheitlichem Staatsgebilde zum ersten Mal historisch Wirklichkeit geworden. Aber das Reich Karls des Großen überdauerte seine Gründer nicht. Es fiel unter seinen Nachfolgern schnell auseinander. Und welches waren die Gründe? Als Sprengkraft wirkte vor allem der Egoismus der Nachfolger Karls des Großen. Sie zogen es vor, ihr eigener Herr auf ihren eigenen Territorien zu sein. Und es ist dieser Spaltpilz des machtpolitischen Egoismus, der während fast zehn Jahrhunderten in der europäischen Geschichte weitergewirkt hat. Das führte in einer ersten Periode zu einer fortdauernden Zerstückelung. In der Folge haben dann die modernen Staatsgebilde, welche die europäischen Großmächte darstellen, ihre Machtpositionen auf den Trümmer des Reiches Karls des Großen aus- und ausgebaut.

Zwei Weltkriege, zwei schreckliche Menschheitskatastrophen, mußten kommen und Europa nahezu in Schutt und Asche legen, um mit Tränen, Not und Tod zu beweisen, wie sehr die Strategie des europäischen "Jeder für sich" Europa geschwächt hat. Und dies wird wohl auch noch fürderhin so weitergehen. Dieser Prozeß der Schwächung wird solange andauern, bis die Völker Europas weise geworden sind. Gerade dieses verbissene Bemühen um politische Weisheit ist es, das der Karlspreis ehren will.

Doch ich möchte nicht in meinem Gedankengang auf halbem Wege stehen bleiben. Wenn auch die Europäer in den letzten tausend Jahren ihrer Geschichte viel hinzugelernt haben und durch schlechte Erfahrungen klüger geworden sind, so sind die europäische Gemeinschaft und der europäische Wille zur Gemeinschaft an der Schwelle des Jahres 2000 trotzdem nicht gegen eine Katastrophe gefeit.

Die Verantwortlichen von heute, das heißt, alle Europäer, Politiker und Nichtpolitiker, und auch unsere Nachkommen, die morgen die Verantwortung tragen werden, müssen Tag für Tag die Lage abschätzen. An uns und an ihnen, an den heutigen und an den künftigen Europäern ist es, tagtäglich zu entscheiden, was unabdingbar ist für die gemeinsame Zukunft Europas und was zum unveräußerlichen nationalen Erbe gehört. Und wehe, wenn die politischen Führer sich bei dieser Abwägung irren! Auf ihren Schultern ruht eine sehr große Verantwortung.

Der rasante Fortschritt in Wissenschaft und Technologie im allgemeinen und besonders auf dem Gebiete der modernen Kommunikationsmittel hat es mit sich gebracht, daß Europa trotz seines beachtlichen Wirtschaftspotentials, seines Reichtums und seiner hohen Kultur und seiner fortgeschrittenen Zivilisation zu jener Halbinsel geworden ist, von der Paul Veléry gesprochen hat. In andern Worten: Europa hält einen Teil seines Schicksals nicht mehr in seinen eigenen Händen. Und, wer weiß, morgen haben jene Großmächte, welche sich heute die Regierung der Welt bereits teilen, die Zügel der europäischen Geschichte vielleicht völlig in der Hand.

In jenen Kreisen, wo man sich deutlicher und eindringlicher der Grenzen bewußt ist, die dem Nationalstaat in seinem politischen Handeln und seinen politischen Möglichkeiten gesetzt sind, ist diese Gefahr bereits längst erkannt. Für ein kleines Land wie Luxemburg ist es auch leichter, das gebe ich gerne zu, diese Grenzen zu erkennen und hinzunehmen. Große und mächtige Nationen haben es in dieser Hinsicht schwerer. Aber auch sie müssen früher oder später einsehen lernen, daß der Nationalstaat ein Produkt der Geschichte ist, und, wie alles, was die Geschichte hervorbringt, nicht für die Ewigkeit, sondern für Bestimmte historische Konstellationen geschaffen und, wie diese, vergänglich ist.

Die europäische Wirtschaft, die europäische wissenschaftliche Forschung und die europäische Technik haben großartige und bewundernswerte Leistungen vollbracht. Daran besteht nicht der geringste Zweifel. Die Fortschritte auf all diesen Gebieten sind enorm. Und dennoch sollten wir uns nicht täuschen lassen: Hoffnung mag am Platze sein. Nicht aber fahrlässiger Optimismus: Die Technologie als vornehmliches Machtmittel ist ebenso gefährlich wie es vordem das Vertrauen in die Anzahl der Bajonette war.

Nur innerhalb eines geeinten Europas können die Völker Europas auch im Dritten Jahrtausend christlich-abendländischer und damit europäischer Geschichte den historischen Weg weitergehen, den sie bisher mit Erfolg gegangen sind. Der äußere und innere Friede, die Bewahrung und Mehrung des den heutigen Europäern von den vergangenen Generationen zu treuen Händen überlieferten gemeinsamen Kulturerbes und schließlich der unerschütterliche Glaube an ein gemeinsames europäisches Schicksal sind die entscheidenden Faktoren, deren Zusammenspiel am Ende zum Erfolg führen wird, vorausgesetzt selbstverständlich, daß die Europäer diesen Erfolg wirklich wollen.

Als das Kuratorium des Karlspreises die hohe Auszeichnung 1982 an seine Majestät, den König von Spanien, verlieh, wies dieser mit Recht darauf hin, daß Europa und die Solidarität der Bürger Europas bis an die geographischen Grenzen des europäischen Kontinents reichen müssen. Weiterhin führte der König von Spanien aus, daß das geographisch und kulturell bereits existierende Europa eine verfassungsrechtliche und politische Grundlage erhalten müsse, soweit es die Spielregeln der freiheitlichen Demokratie erlauben.

Es versteht sich von selbst, daß das Europa der Zukunft ein Europa der Bürger sein muß. Es kann nur auf dem Wege einer demokratischen europäischen Willensbildung und durch eine in Freiheit getroffene Entscheidung der Bürger Europas zustande kommen.

Nicht weniger selbstverständlich ist es, daß die europäische Solidarität der Willen zur Dämpfung und Zurückschneidung der nationalen Egoismen voraussetzt und miteinbegreift. Und dieser Prozeß ist auch nicht möglich, ohne eine gewisse Opferbereitschaft der privilegierten Völker Europas gegenüber den weniger privilegierten Völkern.

Wir Luxemburger haben es in dieser Hinsicht leichter. Unser nationales Selbstbewußtsein ist noch sehr jung. Dies bedeutet nicht, daß es deshalb schwächer als das der übrigen Völker Europas ist. Aber wir haben vielleicht weniger Schwierigkeiten unser Nationalgefühl den Erfordernissen der historischen Stunde anzupassen. Zudem sind wir Luxemburger, durch unsere Einbindung in den deutschen Zollverein im 19. Jahrhundert und in die belgisch-luxemburgische Währungs- und Zollunion nach 1918 und vor allem durch unsere positiven Beneluxerfahrungen vielleicht besser auf die Forderungen der Stunde hinsichtlich eines geeinten Europas, eingestellt als die früheren europäischen Großmächte.

Europa hat nicht bloß eine große Vergangenheit. Es hat auch noch eine große Zukunft. Aber es hat diese Zukunft nur als demokratisches Europa der freien, solidarischen und opferbereiten Bürger. Daß dieses Europa in Glück, Frieden und Wohlstand gedeihe, das ist mein inniger Wunsch an diesem festlichen Tage.