Rede von Tony Blair

Rede von Tony Blair

Zunächst, meine Damen und Herren, Herr Premierminister, lieber Lionel,

als ich Dich darum bat, diese Laudatio zu halten, wußte ich, daß ich Gegenstand eines sorgfältig formulierten Komplimentes sein würde. Ich habe mir aber trotzdem nicht einen solchen Ausdruck von Wärme und von Aufrichtigkeit vorgestellt. Wenn ich heute meine Sporen als Europäer verdient habe - worauf ich sehr stolz bin - so ist es besonders die Anerkennung deiner Freundschaft, die mich am meisten berührt hat, weil alles, was Du gesagt hast, von Herzen kommt und ich möchte Dir dafür danken. Lieber Lionel, ich bin bewegt und gerührt, daß Du wegen mir hierher gekommen bist.

Herr Bundespräsident,
Herr Oberbürgermeister,
Herr Professor Eversheim,
Rudolf Scharping, mein Freund,
liebe Gäste,

erlauben Sie mir, ein paar Worte auf Deutsch zu sagen. Es ist eine große Ehre, diesen Preis zu erhalten. Ich danke Ihnen herzlich dafür, ich danke der Stadt Aachen. Dieser Tag wird lange in meiner Erinnerung bleiben. Danke schön.

Das war der schwierigste Teil meiner Rede. Ich sollte auch unseren Freuden draußen danken. Das höre ich in der Downing Street auch immer und ich fühle mich also wirklich zu Hause. Aber die Leute draußen sollten nicht vergessen, daß sie das Recht haben zu protestieren. Ich wünsche, die Kosovo-Albaner könnten auch im Kosovo protestieren.

Meine Freunde, es ist mir eine sehr große Ehre, heute mit so vielen bedeutenden Persönlichkeiten, die den Preis auch schon bekommen haben, zusammen hier zu sein. Ich sehe hier mit Vergnügen Roy Jenkins, der für mich eine Unterstützung war. Dann Ted Heath, der ein Fels in der Brandung ist. Der andere britische Preisträger war Churchill. Wir sind also in bester Gesellschaft.


Meine lieben Freunde, meine lieben Kollegen, dieser Preis gilt zum Teil meiner Arbeit in Nordirland, und diese Arbeit geht weiter, sowie ich wieder in London bin. Der Frieden ist greifbar nahe, aber es bleibt noch viel Mißtrauen zu überwinden. Der Kampf für den Frieden in Nordirland ist der Kampf zwischen Vernunft und Vorurteil. Es kann nicht angehen, daß es kurz vor Anbruch des 21. Jahrhunderts in einem Teil Europas noch immer eine entscheidende Rolle spielt, ob jemand Katholik oder Protestant ist. Diese Art des Glaubenskonflikts gehört der Vergangenheit an, und dorthin will ich ihn verweisen. Hiermit danke ich Ihnen dafür. Ich nehme diesen Preis im Namen aller Vorkämpfer für den Frieden in Nordirland entgegen.

Kosovo

Diese Stadt [Aachen, d. Hrsg.] wurde im letzten Krieg zerstört. Heute legt sie Zeugnis für die Macht des Fortschritts ab, für die Stärke es menschlichen Geistes und dafür, daß aus den Verheerungen des Krieges Frieden und Wohlstand entstehen können.

Heute jedoch, wie Lionel uns soeben erinnert hat, ist es so, daß nur eine kurze Flugstrecke entfernt ein neuer Krieg unserem Kontinent Wunden zufügt. Ein gerechter Krieg gegen die bösartigste Form rassistischen Völkermords, seit dem Sieg der Generation meines Vaters über die nationalsozialistische Herrschaft. Und, obwohl es eine erschreckende Entwicklung ist, kann ich die große Symbolkraft des gemeinsamen Einsatzes von Flugzeugen der Royal Air Force und der Luftwaffe in einer gerechten Sache nicht unerwähnt lassen. Auch dies zeigt die Macht des Fortschritts. Wir alle haben nichts unversucht gelassen, um diesen Krieg zu vermeiden. Aber selbst als Milosevic vom Frieden sprach, plante er Krieg. Er war entschlossen, ein ganzes Volk aus seinem Land zu verbannen. Wir sind entschlossen, ihn daran zu hindern. Und wir werden uns durchsetzen. Mit jedem Tag, der vergeht, wächst die Entschlossenheit der NATO. Jeder Winkelzug Milosevics bestärkt uns in unserem Willen, ihn zu besiegen. Seine Brutalität kennt keine Halbheiten. Es darf keine Halbheiten bei unserer Reaktion auf sie geben. Keinen Kompromiß. Kein Weichwerden. Keine unausgegorenen Abmachungen. Im gesamten NATO-Bündnis herrscht Klarheit über die Bedingungen - Abzug seiner Truppen, Rückkehr der Flüchtlinge, Stationierung einer internationalen Friedensmacht. Bis dahin werden die Luftangriffe fortgesetzt. Und denjenigen, die dagegen sind, möchte ich zwei Dinge sagen: Erstens, Sie leben in einer Demokratie, und ich verteidige Ihr Recht, Ihre abweichende Meinung zu äußern. Zweitens, wir reden hier nicht von einem fernen Ort, über den wir kaum etwas wissen. Wir reden von der Türschwelle der Europäischen Union, unserem eigenen Hinterhof. Vergewaltigte Frauen, Kinder, die miterleben müssen, wie ihre Väter zur Erschießung abgeschleppt werden. Tausende hingerichtet. Zehntausende geprügelt. 100 000 Männer vermißt. 1,5 Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Keine Halbheiten bei der Barbarei. Keine Halbheiten in unserer Reaktion darauf. Es gibt keine Fernsehbilder, die uns zeigen, wie fürchterlich es im Kosovo zugeht. Wir dürfen nicht zulassen, daß die von Milosevic kontrollierten Medien unsere Vorstellungen von den Greueltaten, die er dort begeht, überlagern. Und geben Sie niemals auf, den Flüchtlingen zuzuhören. Sie sind unsere Sache. Eine gerechte Sache. Sie werden nach Hause zurückkehren. Und wenn das geschieht, wird jeder andere Möchtegern-Diktator auf der Welt wissen, daß die internationale Gemeinschaft nicht abseits stehen und zulassen wird, wie er willkürlich Menschen umbringt, eine Region destabilisiert, ein Volk auslöscht. Wir können nicht zulassen, daß die in Europa gehegten Wertvorstellungen in einem Teil Europas geschändet werden, während es uns in unserem westlichen Teil des Kontinents gut geht. Nur wenn wir aufrecht für die Sache der Gerechtigkeit eintreten, werden wir den Idealen unserer Vorgänger gerecht, die zum Wiederaufbau Aachens und des Europas, für das es steht, beitrugen.

Die zentrale Herausforderung

Ich möchte heute meine Gedanken zu Europa und wo wir stehen, darlegen. Das erste Argument, das ich vorbringen möchte, betrifft sowohl Großbritannien als auch Europa.
Großbritannien muß seine ambivalente Einstellung gegenüber Europa überwinden. Dann können unsere Kreativität und unser Pragmatismus als Beitrag eines Partners akzeptiert werden, und nicht eines Außenseiters. Das ist in Großbritanniens Interesse, und es ist auch im Interesse Europas. Die zentrale Herausforderung für Europa lautet nicht länger nur, den inneren Frieden in der Europäischen Union zu wahren. Es geht vielmehr um die von der Außenwelt gestellte Herausforderung, wie wir Europa stark und einflußreich machen, wie wir Europas Potential nutzen, eine globale Macht für das Gute zu sein. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir akzeptieren, daß unsere Wirtschaft die Reform braucht, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Unser europäisches Verteidigungsfähigkeit ist nicht annähernd ausreichend. Und wir haben noch nicht den Einfluß in globalen Fragen, den wir haben sollten. Wir sind weniger als die Summe unserer Bestandteile. Deshalb müssen wir in den wirklich wichtigen Fragen enger zusammenarbeiten und die Subsidiarität nutzen, um uns aus vielen der weniger wichtigen Fragen herauszuhalten. Integration, wo nötig. Dezentralisierung, wo möglich. Der Europäische Rat - die europäischen Staats- und Regierungschefs - muß zu seiner ursprünglichen Rolle zurückkehren, nämlich klare strategische Ziele vorzugeben und partnerschaftlich mit einer starken Kommission zusammenzuarbeiten, um diese zu erreichen.

Großbritannien in Europa

Meine lieben Kollegen, die erste Wahl, an der ich teilnehmen durfte, war das Referendum, mit dem Großbritannien über seinen Beitritt zum Gemeinsamen Markt entschied. Ich stimmte mit Ja. Als Student in Frankreich, einer der besten Abschnitte meiner Ausbildung - aus vielen Gründen, von denen ich die meisten Gründe hier nicht erwähnen sollte -, empfand ich es als befreiend, als junger Mann, innerhalb unseres gemeinsamen Marktes, in einem anderen Land leben und arbeiten zu können. Ich will ganz offen sein über meine Gefühle für Großbritannien und Europa. Ich bin Patriot. Ich liebe mein Land. Zwei Merkmale zeichnen die Briten aus, wo sie sich von ihrer besten Seite zeigen: Kreativität und common sense. Wie unsere Geschichte zeigt, hat es uns an Kühnheit oder Mut nie gefehlt. Aber unsere Abenteuerlust ist immer durch praktischen Realismus gemäßigt worden. Wir sind eher pragmatische Visionäre als Utopisten. Es ist uns manchmal schwergefallen, uns mit dem Europa anzufreunden, wie es in den letzten 50 Jahren entstanden ist. Möglich, daß die Geschichte anders verlaufen wäre, wenn wir von Anfang an dabei gewesen wären und das Gefühl gehabt hätten, an dessen Erschaffung beteiligt zu sein, statt nur beizutreten. Aber so war es nun einmal nicht, und das ist schade. Jetzt hat meine Generation eine neue Chance. Wir haben, so hoffe ich, viel zur Europäischen Union beizutragen. Aber ich weiß, das können wir nur auf partnerschaftlicher Basis tun und wenn wir unsere Rolle ohne jede Einschränkung spielen. Halbherzige Partner sind selten führende Partner. Die praktische Seite des britischen Volkscharakters akzeptiert, daß wir Teil Europas sein sollten, sorgt sich jedoch über die Richtung, die Europa einschlägt. Ist die europäische Wirtschaft leistungsfähig genug? Funktioniert die Brüsseler Bürokratie?

Viele dieser Fragen sind vernünftig und werden auch in Ländern gestellt, auf deren europäisches Engagement nie auch nur der Schatten eines Zweifels gefallen ist. Was ich meinem eigenen Land zu sagen habe, ist dies: Wenn wir möchten, daß sich Europa von dem pragmatischen Element unseres Charakters leiten läßt, müssen wir auch unsere kreative Vorstellungskraft nutzen, um zu erkennen, daß wir nur durch Mitwirkung das Europa, in dem wir leben, gestalten und beeinflussen können. Und ich glaube leidenschaftlich daran, daß man für Großbritannien sein kann ohne gegen Europa zu sein. Wir hegen und bewahren unsere nationale Identität, genau wie Sie es tun. Aber beim Aufbau der Europäischen Union haben wir die Chance, unsere nationalen Interessen nicht zu unterdrücken, sie vielmehr auf neue Weise für eine neue Welt nutzbar zu machen, indem wir zusammenarbeiten. Seit unseren Parlamentswahlen, wie Lionel gesagt hat, glaube ich, daß sich die Beziehungen zwischen Großbritannien und der übrigen Europäischen Union entscheidend gewandelt haben. Auf den Tagungen des Europäischen Rats im Juni 1997 in Amsterdam, 1998 in Cardiff und im März dieses Jahres in Berlin haben wir uns konstruktiv verhalten. In unserer gemeinsamen Erklärung mit unseren französischen Kollegen in St. Malo haben wir geholfen, eine seit langem überfällige Debatte über die Zukunft der europäischen Verteidigung einzuleiten. Im Februar dieses Jahres veröffentlichten wir einen nationalen Plan für Großbritanniens Übergang zur gemeinsamen Währung. Wir haben unsere grundsätzliche Befürwortung der britischen Teilnahme erklärt, auch wenn wir die notwendigen Bedingungen betont haben, die vor unserem Beitritt erfüllt sein müssen. Die Absicht ist real. Die Bedingungen sind real.

Ich habe ein kühnes Ziel: daß Großbritannien in den nächsten Jahren ein für allemal seine ambivalente Haltung gegenüber Europa aufgibt. Ich möchte der Unsicherheit, dem Mangel an Vertrauen, der Europhobie ein Ende machen. Ich möchte, daß sich Großbritannien in Europa zu Hause fühlt, weil es wieder zu den führenden Akteuren in Europa zählt. Ich möchte, daß sich Europa der Reform öffnet und sich auch ändert. Denn wenn ich für Europa bin, dann bin ich auch für Reform in Europa. Wir sollten die dogmatischen Debatten über europäische Superstaaten beiseite lassen. Niemand, den ich kenne, wünscht sich so etwas Hochgestochenes wie die Vereinigten Staaten von Europa. Wer da glaubt, Frankreich, Deutschland, Spanien oder Italien hätten kein Nationalbewußtsein, versteht diese Länder nicht. Wir sind stolze Nationen, die zusammenarbeiten. Das europäische Ideal betrachtet man meiner Ansicht nach besser unter dem Aspekt von Werten als von Institutionen; dem Aspekt einer europäischen Gesellschaft, in der unsere Schlüsselwerte Freiheit, Solidarität, Demokratie und Unternehmertum geteilt und gemeinsam gestärkt werden; in der unsere Vielfalt zu einer Quelle der Stärke wird, unser kulturelles Erbe uns bereichert und in der wir durch Vertretung dieser Werte nach außen hin unsere globale Verantwortung erfüllen.

Unsere erste Phase war Frieden in der EU; unsere zweite Phase ist die Annahme der neuen globalen Herausforderung. In der nächsten Ära muß es darum gehen, wie wir Europas Stärke, Macht und Verantwortung gegenüber der Außenwelt aufbauen. Jetzt kommen die Herausforderungen von außen: in der Wirtschaft, in der Verteidigung und mit der Erweiterung. Statt damit zu beginnen, sich theoretisch mit Strukturen auseinanderzusetzen und dann die Frage zu stellen, was die Strukturen leisten können, müssen wir jetzt mit der Frage beginnen, was wir erreichen wollen, und dann die dafür nötigen Strukturen schaffen. Dies verlangt eine vollständige Neubewertung unserer grundlegenden Ziele und der Mittel, sie zu erreichen.

Was meine ich mit Reform?

Wirtschaft

In der Wirtschaft befinden wir uns mitten in einer wirtschaftlichen Revolution: globale Finanzen, technologischer Wandel, das Internet und elektronischer Handel, die Revolution des Arbeitsplatzes, das Ende der Massenproduktion, neue Verbrauchervorlieben, Vielfalt und Wandel ohne Ende. Beim europäischen Sozialmodell geht es um Werte, nicht um starre und auf Dauer festgeschriebene politische Rezepte. Die Werte - eine Gesellschaft, die Unternehmertum mit sozialer Gerechtigkeit verbindet - bleiben bestehen. Doch heute liegt der Hauptakzent auf dem Wettbewerb mit der Außenwelt in einer auf Wissen gestützten Wirtschaft. Das bedeutet Investitionen in Bildung und Ausbildung; Förderung von Kleinunternehmen; aktive und nicht passive Wohlfahrtsstaaten; Reform der Steuer- und Sozialleistungssysteme, um Anreize für Arbeit zu bieten. Das heißt, weniger Regulierung, mehr Arbeitsmarktflexibilität, geringere Lohnnebenkosten. Es kann heißen: eine weniger umfangreiche Sozialgesetzgebung. Aber es kann auch heißen: weitaus weniger Zusammenarbeit auf Gebieten wie Technologie, Kommunikation und Unternehmertum. Das Sozialmodell wird bleiben, aber es wird auf andere Art und in einer anderen Welt umgesetzt. In den neuen Bereichen Unternehmertum und Kleinunternehmen schneiden wir im Vergleich mit den Vereinigten Staaten nicht gut ab. Das ist eine Tatsache, der wir uns stellen müssen. Der richtige Weg, Langzeitarbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung in den Griff zu bekommen, führt nicht über die althergebrachte Nachfragesteuerung. Vielmehr brauchen wir gezielte Maßnahmen, die eng mit der Reform des Sozialsystems einher gehen.

Die Europäische Währungsunion ist nicht nur weit entfernt davon, die Notwendigkeit der Reform zu verringern, sondern macht diese absolut unumgänglich. Die Wirtschafts- und Strukturreform ist der Schlüssel für den Erfolg des gemeinsamen Marktes und der einheitlichen Währung. Ich glaube, wir bewegen uns jetzt in diese Richtung. Doch es muß schneller gehen und weiter gehen.

Auch im Bereich der Welthandelsorganisation und der internationalen Finanzarchitektur sollte Europas Stimme zählen. Wir sollten eine starke Kraft für den freien Handel, eine nach außen orientierte EU und eine führende Kraft bei dem Bemühen um eine vernünftige Reform des globalen Finanzwesens sein. Wir sollten eine Führungsrolle in dem Prozeß übernehmen, die Schuldenlast der Dritten zu erleichtern und Rußland wirksame Hilfe bereitzustellen. Das sind Dinge, die wir nicht alleine lösen können.

Verteidigung

Dann gibt es noch die Frage der gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik. St. Malo war meines Erachtens ein Durchbruch. Dennoch war es nur der Anfang. Es ist jetzt viel von Strukturen die Rede. Aber ich glaube, es geht hier auch um unsere Verteidigungsfähigkeit.
Wenn Europa verteidigungspolitisch eine Schlüsselrolle spielen will, braucht es, offen gesagt, moderne Streitkräfte, strategische Transportfähigkeiten und die erforderliche Ausrüstung, um eine Kampagne durchzuführen. Kein Staat wird je auf sein souveränes Recht verzichten, über den Einsatz seiner Streitkräfte selbst zu bestimmen. Wir müssen uns jedoch Gedanken dazu machen, wie wir besser zusammen arbeiten, uns in unseren Fähigkeiten ergänzen und uns das gesamte Spektrum von Verteidigungsoptionen erschließen können. Das bedeutet auch mehr Integration in der Rüstungsindustrie und in der Beschaffung. Und ich glaube, meine Freunde, sollte es hierzu irgendwelche Zweifel gegeben haben, dürfte der Kosovo sie beseitigt haben.

Erweiterung

Die Ereignisse im Kosovo zeigen uns auch, wie dringlich die Erweiterung ist. Wie Lionel gesagt hat, ist es so, daß die Frontstaaten von uns in erster Linie die Perspektive einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union erwarten. Ich unterschätze nicht die Schwierigkeiten, die mit einer Aufnahme dieser Länder verbunden wären. Aber ich bin überzeugt, daß wir heute mehr als je zuvor die Pflicht haben, ihnen die Hoffnung auf eine EU-Mitgliedschaft zu geben und wir so schnell wie möglich handeln müssen, um diese Hoffnung zur Realität werden zu lassen. Das bedeutet nicht, daß wir den Beitrittsprozeß für die jetzigen mitteleuropäischen und mediterranen Bewerberländer verlangsamen sollten. Im Gegenteil, wir müssen unsere Verhandlungen intensivieren. Die Erweiterung bietet uns die Möglichkeit eines Marktes von 500 Millionen Verbrauchern und daraus ergeben sich natürlich riesige Vorteile.

Kriminalität, Drogen,Umwelt

Und als globale Herausforderung gibt es die Herausforderung des Verbrechens und der Drogenbekämpfung. Vor einem halben Jahrhundert bestand im Bereich der Bekämpfung von Schwerverbrechen die größte Aufgabe darin, gegen die Bandenkriminalität in unseren Großstädten vorzugehen. Heute geht die Gefahr von den internationalen Drogenbaronen aus, die in Ländern mit schwachen oder nichtexistenten Regierungen parastaatliche Despotenherrschaften errichten, Versorgungslinien über den ganzen Globus hinweg aufbauen, über die sie ihre Waren der Selbstzerstörung auf unseren Straßen absetzen, und ihre kriminellen Profite dann von Banken recyceln lassen, die außerhalb der Reichweite der nationalen Finanzaufsicht stehen. Liegt es nicht auf der Hand, daß eine Europäische Union, die entschlossen in Partnerschaft mit anderen Ländern handelt, im Kampf gegen diese Bedrohung weit mehr Macht hat als jeder einzelne Mitgliedstaat für sich allein? Wir sollten hier vor allen Dingen überlegen, wie wir unsere Anstrengungen für die gemeinsame Sache bündeln können, um das internationale Verbrechen zu bekämpfen.

Das gleiche gilt für die Umwelt. Die Erderwärmung bedroht den Wohlstand, die Ökologie und die Sicherheit der gesamten Menschheit. In Kyoto hat Europa die Führung übernommen - mein Stellvertreter John Prescott hat hier eine wichtige Rolle gespielt. Jetzt hat Europa die Aufgabe, darauf zu achten, daß die Verpflichtungen von Kyoto umgesetzt werden. Die Umwelt ist eine Frage, zu der die europäische Stimme klar und deutlich gehört werden muß.

Subsidiarität

In all diesen Bereichen, meine Freunde, schlage ich vor, daß Europa sich um mehr Zusammenhalt, Stärke und Einfluß bemüht und auch Gebrauch davon macht. In manchen Bereichen wird eine weitere Integration erforderlich sein. Aber wir haben dabei ein festes Ziel vor Augen. Es liegt in unserem eigenen Interesse, die Europäische Union aufzubauen, damit die Nationalstaaten, die sich darin befinden, sich der Außenwelt stellen können. Europa sollte, wenn ich das so sagen darf, die großen Dinge besser machen und sich aus den kleinen Dingen heraus halten, die anderswo besser gemacht werden können. Und, da ich hier ganz offen sein will, unsere Bürger werden die EU unterstützen. In einem Fall werden sie jedoch geschlossen Widerstand leisten, nämlich, wenn die EU sich in die Alltagsdinge einmischt und dies aus obskuren Gründen. Europa könnte auf manchen Gebieten weniger Gesetze erlassen und mehr bewirken. Wie gesagt, Integration, wo nötig, Dezentralisierung, wo möglich. Das Subsidiaritätsprinzip ist ein wesentliches Element bei der Gestaltung des neuen Europa. Europa funktioniert dadurch und bleibt damit in Kontakt mit seinen Bürgern. Ich plädiere also dafür, daß wir uns in dieser nächsten Ära Europas auf den Aufbau einer starken Position nach außen hin konzentrieren. Heißt das, auf innere Reformen zu verzichten? Nein, natürlich nicht. Wir befinden uns in einem Stadium des Wandels in Europa. Um der globalen Herausforderung gerecht zu werden, müssen wir auch unsere Arbeitsweisen reformieren.

Ich glaube nicht, daß Europa sich zu einem Zweitausgabe der Vereinigten Staaten von Amerika entwickeln wird. Aber genauso wenig glaube ich, daß Europa nur eine bloße Freihandelszone sein wird. Europa wird ein völlig neuartiges Gebilde sein. Die Macht wird verteilt sein, d. h. Entscheidungen werden auf europäischer Ebene getroffen, wo dies erforderlich ist, und auf örtlicher oder nationaler Ebene, wo dies möglich ist. Bei der Reform unserer europäischen Strukturen sollten wir nicht das Verfassungskonzept eines souveränen Staates imitieren, sondern diejenigen Strukturen schaffen, die wir zur Erreichung unserer Ziele brauchen, unter Berücksichtigung des einzigartigen Charakters der Union. Wir brauchen eine starke Kommission, die dem Druck von Interessengruppen standhält. Im Zuge der Erweiterung muß sie gestrafft werden, und ihre Mitglieder müssen nach ihren Fähigkeiten ausgewählt werden. Romano Prodi hat erklärt, daß er Reformen durchsetzen wird. Nach den jüngsten Erfahrungen erwarten das unsere Bürger. Jetzt ist es Zeit für eine Reform von Grund auf. Wir brauchen eine neue Partnerschaft zwischen der Kommission und dem Rat. Natürlich muß die Kommission das Vorschlagsrecht behalten. Aber die Rolle des Europäischen Rates sollte sich deutlich ändern. Im Moment fungiert er als Berufungsgericht, das Meinungsverschiedenheiten untergeordneter Räte schlichtet. Wir diskutieren über pauschale Abschlußerklärungen mit gar keiner rechtlichen und wenig politischer Verbindlichkeit. Der Europäische Rat sollte zu seiner ursprünglichen Konzeption zurückkehren und sich mit wichtigsten strategischen Fragen befassen, zu denen er klare Richtlinien zur Durchführung gemeinsam festgelegter politischer Vorhaben erteilen kann. Er sollte die Strategie festlegen und die Fortschritte der Kommission bei der Erfüllung der vereinbarten Prioritäten überprüfen. Das Europäische Parlament prüft dann die politischen Vorhaben im einzelnen, kontrolliert die Effektivität, mit der die Kommission den vom Europäischen Rat vorgegebenen Plan erfüllt, und läßt sich von der Kommission Rechenschaft ablegen. Auf diese Weise sichern wir eine effektive Regierung und demokratische Legitimation, sowohl über den Rat, in dem alle gewählten Regierungen vertreten sind, wie auch über das Parlament. Überdies gibt uns die Ernennung von Herrn oder Frau GASP eine große Chance. Diese Persönlichkeit muß Gewicht und Autorität haben, um Europa Geltung und Gehör zu verschaffen.

Schlußfolgerungen

Liebe Freunde, liebe Kollegen, meine Vision für Europa ist also die folgende:

-Ein Europa, das nach außen und nicht nach innen schaut.
-Ein Europa, das hohe Ambitionen hat und das nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner sucht.
-Ein Europa, das tut, was es tun muß - und das aber gut - und das, was es nicht tun muß, überhaupt nicht tut.
-Ein Europa, das Bedeutung hat, weil es sich auf Dinge konzentriert, die Bedeutung haben.
-Ein Europa, das die wichtigen Schlachten gewinnt.
-Ein Europa, das auf den Auslandsmärkten konkurrieren und gewinnen kann.
-Wir gewinnen im Kampf gegen Drogen und Kriminalität.
-Wir gewinnen im Kampf gegen die Zerstörung der Umwelt, um unseren Planeten zu retten.
-Wir gewinnen den Kampf um Frieden und Sicherheit.

Arbeitsplätze und Wettbewerbsfähigkeit, Kriminalität, Umwelt, Erweiterung, Verteidigung und Außenpolitik. Das ist eine wichtige Agenda für ein Europa, das zählt. Machen wir dies richtig. Dann gewinnen wir. Bauen wir ein Europa der Gewinner.

Es ist mir eine Ehre, Ihren Preis entgegenzunehmen. Lassen Sie mich zur Erwiderung folgendes sagen: Im Dom heute morgen hatten wir einen herrlichen Gottesdienst. Ich war sehr bewegt, und zwei Gedanken sind mir durch den Kopf gegangen. Zunächst einmal, wie außergewöhnlich und wertvoll es war, daß in diesem historischen Dom in Aachen - dessen Geschichte bis ins achte Jahrhundert zurückgeht, der so viele Veränderungen gesehen hat, der so viele Konflikte und so viele Kämpfe gesehen hat -, daß wir heute in Europa, in der EU, Nationen haben, die einmal im Krieg miteinander gestanden haben und diese jetzt in Frieden und Sicherheit miteinander leben. Und ich habe gedacht, wie glücklich sind doch meine Kinder, daß sie in einem solchen Europa aufwachsen dürfen. Und mein zweiter Gedanke war der: Das Tempo der Veränderung in unserer Welt, wie doch Jahrhunderte in ein Jahrzehnt gepreßt werden - ein Jahrzehnt des außergewöhnlichen Wandels- und in dieser Welt des Wandels ist es so, daß die Europäische Union ein Fels der Stabilität sein muß und sein kann. In dieser Welt, wie wir ja in der jüngsten Vergangenheit gesehen haben, verändern sich die Dinge so schnell und mit so tief greifenden Auswirkungen, daß wir die EU als diesen Fels der Stabilität brauchen. Mein Land sollte Teil dieses Stabilitätspaktes sein. Wenn wir uns einmal als Freund und Verbündeter verpflichtet haben, dann hoffe ich, ist das eine Freundschaft fürs Leben. Von den Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, ist keine wichtiger als die, wie wir unsere Beziehungen zum übrigen Europa gestalten und wie sich Europa den neuen Herausforderungen stellt, die ich beschrieben habe. Wenn wir das richtig machen - und Großbritannien, mein Land, kann hier seinen rechtmäßigen Platz in Europa einnehmen, das neue Europa gestalten - dann wird dieses Europa eine Kraft für das Gute in dieser Welt werden.

Foto Anthony (Tony) Charles Lynton Blair

Anthony (Tony) Charles Lynton Blair